Ausgabe 1 / 2020 Bibelarbeit von Rainer Kessler

Entsetzen und Staunen angesichts des leidenden und erhöhten Gottesknechts

Von Rainer Kessler

Im Jesajabuch erscheint wiederholt eine Gestalt, die im Munde Gottes als „mein Knecht, mein Getreuer“ bezeichnet wird. Der letzte dieser Texte liegt in Jes 52,13 – 53,12 vor. Er ist der berühmteste. Er berichtet von der entstellten Gestalt des Knechts, seinen Wunden und seinem Leiden und mündet in die Einsicht einer Gruppe von Menschen, dass dieses Leiden stellvertretend für sie selbst und zu ihrem Heil erfolgte. Gerahmt wird dieses Bekenntnis von zwei Gottesreden, in denen der Ewige die Erhöhung seines Knechts verkündet.

Die Erhöhung des Knechts
Die erste dieser Gottesreden beginnt damit, dass Gott die Erhöhung seines Getreuen zu königlicher Würde ankündigt. Darauf folgen die Worte, die im Zentrum dieser Bibelarbeit stehen:

14 So sich viele darüber entsetzt haben – so unmenschlich war seine Gestalt, kaum noch menschenähnlich ihr Anblick –,
15 so werden viele fremde Völker in Staunen geraten und Majestäten davor ihren Mund verschließen. Denn was ihnen nie erzählt wurde, sehen sie, und was sie nie gehört haben, nehmen sie wahr.


Die Gottesrede in 52,13-15 nimmt in Kurzform vorweg, was das folgende Lied in Kap. 53 ausführlich schildert: die Erniedrigung des Knechts und seine Erhöhung. Zusätzlich werden zwei Reaktionen auf die Gestalt des Knechts mitgeteilt. Die erste liegt in der Vergangenheit. Wer die entstellte Gestalt dieses Menschen gesehen hat, war entsetzt. Der Anblick des Grauens – das von Säure zerfressene Gesicht einer Frau, der seiner Gliedmaßen beraubte Körper eines Soldaten, die aufgerissenen Augen eines verhungernden Kleinkinds – löst in uns Grauen aus. Mehr steht hier nicht. Das Weitere folgt in Kap. 53, und zwar als Bekenntnis derer, die dort das Wort haben.

Hier dient das Entsetzen der vielen – gemeint sind Menschen aus dem Volk Israel, die den Knecht oder Getreuen Gottes zu Gesicht bekommen – zunächst als Kontrast für die Reaktion der Völker und ihrer Könige. Sie nämlich werden in Zukunft die Erhöhung des Knechts sehen. Darüber geraten sie in Erstaunen – zumindest nach der Übertragung von Luther und der Bibel in gerechter Sprache, die sich an die alte griechische Übersetzung anlehnen. Im hebräischen Text wird der Knecht selbst aktiv, was die Zürcher Bibel und die Einheitsübersetzung aufnehmen: „ so wird er viele Nationen besprengen“ (ZB) beziehungsweise „so wird er viele Nationen entsühnen“ (E). Beiden Überlieferungen lässt sich Sinn abgewinnen; dazu unten mehr. Eindeutig jedenfalls ist die Tatsache, dass den

Majestäten „das Maul gestopft wird“, wie Luther die entsprechende Wendung in Ps 107,42 übersetzt. Ihnen verschlägt es die Sprache angesichts dessen, was sie sehen.

Was aber löst das Entsetzen vor der entstellten Gestalt aus? Was lässt die Könige der Völker staunend verstummen? Das erschließt sich nur von dem Geschehen, das in Kap. 53 ausführlicher thematisiert wird. Es enthält die beiden Elemente, die schon in unserem kurzen Einleitungstext vorkommen: die Erniedrigung und Erhöhung des Knechts. Hinzu kommt als Wesentliches, dass sich in diesem Vorgang stellvertretendes Leiden ausdrückt: Der Knecht leidet nicht wegen eigener Verfehlungen, sondern um anderer willen, die er damit von ihren Sünden freimacht. Welch ein rätselhaftes Geschehen! Lässt sich das Rätsel lösen, wenn wir wissen, wer mit dem „Knecht“ gemeint ist?
„Über wen sagt der Prophet das?“
Nach der Apostelgeschichte des Neuen Testaments liest ein hoher äthiopischer Hofbeamter auf seiner Heimreise Jes 53 und fragt den vorbeikommenden Apostel Philippus: „Über wen sagt der Prophet das? Über sich selbst oder über jemand anderen?“ (Apg 8,34).

Für die Autoren der neutestamentlichen Schriften war klar, dass sie im Licht von Jes 53 Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu deuten konnten. Immer wieder zitieren sie Sätze aus Jes 53 und beziehen sie auf Jesu Ergehen (Mt 8,17; Lk 22,37; Joh 12,38; Röm 15,21; 1 Petr 2,22-25). An der erwähnten Stelle in der Apostelgeschichte wird sogar ausdrücklich die Frage der richtigen Auslegung von Jes 53 zum Thema gemacht. Allerdings muss man genau auf den Wortlaut der Antwort des Apostels Philippus achten. Auf die Frage des äthiopischen Beamten antwortet er nicht etwa: „Der Prophet sagt das über Jesus Christus.“ Vielmehr heißt es: „Philippus begann zu sprechen, und von dieser Schriftstelle ausgehend verkündigte er ihm Jesus“ (Apg 8,35). Die Schrift prophezeit nicht im platten Sinn Jesus Christus, wie das die christliche Auslegung – oft in offener Feindschaft gegen jüdische Deutungen – lange gesehen hat. Die Schrift ist vielmehr der „Wahrheitsraum“ (F. Crüsemann), in dem das Jesus-Geschehen verstanden werden kann.

Auch in jüdischer Tradition findet sich die Auslegung auf den künftigen Messias, die die neutestamentlichen Autoren voraussetzen. Daneben aber gibt es andere Deutungen: auf eine Gestalt der Geschichte wie Mose oder Jeremia oder die kollektive Deutung auf das Volk Israel. Letztere hat für sich, dass immer wieder Israel als „Knecht“ des Ewigen bezeichnet wird (Jes 41,8f; 42,19; 44,1f.21; 45,4; 48,20). Der ganze Textbereich von Jes 49–55 ist davon geprägt, dass das Volk Israel abwechselnd mit der männlichen Gestalt des Knechts und der weiblichen von Frau und Mutter Zion in eins gesetzt wird. Aber ganz geht die Identifizierung nicht auf, denn der Knecht steht auch Israel gegenüber. Er soll Israel aufrichten (49,5f); und in unseren Versen entsetzen sich die Vielen aus dem Volk Israel an seinem Anblick. Ist also der Knecht der künftige Messias oder ein Prophet, oder steht er für eine Gruppe von Menschen, die dem Ewigen besonders treu sind, letztlich vielleicht doch sogar für das jüdische Volk?

Die Antwort bleibt so offen wie bei einem Liebesgedicht die Gestalt des oder der Geliebten. Müssen wir bei den Zeilen: „Du bist mein, ich bin dein, des sollst du gewiss sein“ wissen, wer Du und Ich sind? Jedes Liebespaar kann sich hineinlesen, aber auch die Liebe zwischen Eltern und Kindern und sogar die Liebe zwischen Mensch und Gott lässt sich so ausdrücken: „Du bist nun mein, und ich bin dein“ heißt es in dem Lied „Mein schönste Zier und Kleinod bist auf Erden du, Herr Jesu Christ“ (EG 473).

Sich in den Text hineinlesen
Wichtig ist nicht, wer der Knecht des Ewigen ist, sondern was an ihm sichtbar wird. Es ist dreierlei. Es ist das furchtbare Leiden und die fast unmenschliche Entstellung, die diejenigen entsetzt, die sie sehen. Das trifft auf den Foltertod Jesu ebenso zu wie auf die Leiden des jüdischen Volkes – die Bilder des Grauens von Auschwitz, das vor 75 Jahren befreit wurde, waren jetzt wieder überall zu sehen. Es ist zweitens die Erfahrung, dass das Leiden und die Entstellung nicht das letzte Wort haben. Trotz schwerster Wunden, Narben und Traumata lebt das jüdische Volk weiter, was für manche der einzig stichhaltige Gottesbeweis ist. Und die erste Jesusanhängerschaft machte die überwältigende Erfahrung, dass der Gekreuzigte nicht im Tod geblieben, sondern von Gott zum Leben erweckt worden ist.

Das Dritte schließlich, was am Knecht des Ewigen sichtbar wird, ist das Geheimnisvollste. Es ist die Erfahrung, dass durch das stellvertretende Leiden des Knechts „wir“ von Schuld und ihren Folgen frei geworden sind. Es ist nicht so, dass da jemand für uns eine offene Rechnung bezahlen würde; das geht moralisch und theologisch nicht. Aber es gibt die Erfahrung, dass ich mich in eine Schuld gegen Gott, Mitmenschen und die Schöpfung verstrickt habe, aus der ich mich selbst nicht befreien kann. Kommt dann eine Einzelne, ein Einzelner oder ein Kollektiv und trägt die Folgen meines Tuns, indem er oder sie Wege aus der Schuldverstrickung geht, dann kann ich das als Befreiung von der Schuld und ihren Folgen erleben. Stellvertretendes Leiden bedeutet nicht, dass ich meine Schuld auf einen anderen abschiebe, sondern führt zum Bekenntnis meiner eigenen Schuld, von der ich aber zugleich befreit werde.

Der mehrdeutige Satz von Jes 52,15 ergibt so oder so guten Sinn. Spricht er vom Knecht, der die Nationen „besprengt“ und dadurch „entsühnt“, dann spricht er die befreiende Wirkung des stellvertretenden Leidens des Knechts aus. Spricht er dagegen vom Staunen der Völker, dann gibt er die Reaktion derer wieder, die diese Erfahrung gemacht haben und denen es darüber die Sprache verschlägt. Das Auschwitz-Gedenken vom 27. Januar und die Erinnerung an das Sterben Jesu an Karfreitag sind beides Gelegenheiten, die biblische Gestalt des Gottesknechts erfahrbar zu machen


Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / 60-90 min
Die meisten Passionslieder sind nur mit Vorbehalt zu singen. Entweder enthalten sie den Gedanken, dass Gott den Tod Jesu gewollt hat, damit endlich jemand die bei ihm offene Rechnung bezahlt („Geh hin, mein Kind, und nimm dich an der Kinder, die ich ausgetan zur Straf und Zornesruten; die Straf ist schwer, der Zorn ist groß, du kannst und sollst sie machen los durch Sterben und durch Bluten“, EG 83,2). Oder sie betonen in einer Weise die Schuld des und der Einzelnen am Tod Jesu, dass ihr oder ihm der Raum zum Atmen geraubt wird („O Menschenkind, nur deine Sünd hat dieses angerichtet“, EG 80,3). Einigermaßen frei davon sind EG 82, 86, 90, 91 und 98. Aber man kann auch „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ singen (EG 85), wenn man Strophe 4 richtig einordnet.

Einstieg: Die TN erhalten Kopien von zwei Bildern: eine Kreuzigung (sehr geeignet ist Grünewalds Isenheimer Altar) und ein Foto von Menschen im Konzentrationslager Auschwitz.

Nach einer Zeit stiller Betrachtung werden die TN gebeten, über zwei Fragen zunächst je für sich nachzudenken und ihre Gedanken dazu zu notieren:
– Was löst der Anblick der beiden Bilder bei mir aus?
-Was haben diese Bilder gemeinsam?
Danach tauschen sie sich im Gespräch darüber aus.

Einführung in den Text: Der Text Jes 52,13 – 53,12 wird gemeinsam gelesen. Wer mag, kann anschließend einen Vers in die Runde sprechen, der ihn oder sie besonders angesprochen hat.

Anschließend führt die Leiterin / der Leiter anhand der Bibelarbeit in den Text ein.

Gruppengespräch: Schauen wir jetzt noch einmal auf das Bild aus dem Konzentrationslager Auschwitz und überlegen, was das Erinnern fremden Leids für uns bedeutet.
– Belastet es uns, sodass wir es loswerden wollen ?(vgl. den Geschichtsrevisionismus der AfD und anderer)?
– Empfinden wir das Erinnern als „moralische Pflicht“?
– Oder kann im Erinnern an fremdes Leid etwas Befreiendes liegen – und wenn ja, worin besteht es?

Hinweis für die Leiterin/den Leiter: Wenn der Gedanke nicht genannt wird, weisen Sie darauf hin, dass es nur dann gerechtfertigt ist, in Kirchenräumen den Körper eines Gefolterten zu zeigen, wenn klar ist, dass er stellvertretend für alle steht, die gefoltert, gequält und entrechtet wurden und werden. Nur wenn wir dem Anblick des Leids standhalten und ihm nicht ausweichen, können wir Wege zu seiner Überwindung finden.

Abschluss: Wir lesen Jes 52,13 – 53,12 noch einmal mit verteilten Rollen:
52,13-15 (Gott)
53,1-10 (Wir)
53,11-12 (Gott)

Lied: siehe oben

Verwendete Literatur:
Ulrich Berges: Jesaja 49–54 (HThKAT), Freiburg u.a. 2015.
Sebastian Grätz: Die unglaubliche Botschaft. Erwägungen zum vierten

Lied des Gottesknechts in Jes 52,13-53,12, in: SJOT 18 (2004) 184-207.
Hans-Jürgen Hermisson: Deuterojesaja. 3. Teilband. Jesaja 49,14 – 55,13
(BK XI/3), Göttingen 2017.

Prof. em. Dr. Rainer Kessler hat nach der Promotion in Ev. Theologie als Pfarrer und als Assistent an der Kirchlichen Hochschule Bethel in Bielefeld gearbeitet. Von 1993 bis 2010 war er Professor für Altes Testament in Marburg. Im Ruhestand engagiert sich jetzt intensiv ehrenamtlich, um exegetisches Wissen auf dem neuesten Stand in Gemeinden, Pfarrkonventen, bei Fortbildungen und durch Beiträge für gemeindebezogene Publikationen an die kirchliche Basis zu vermitteln.

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