Wie geht es Ihnen im Gespräch – 30 Jahre nach der deutschen Einheit? Merken Sie immer noch gleich, wer aus Ost- und wer aus Westdeutschland stammt? Und wenn ja: Woran merken Sie es? An der Sprache, der Haltung, den Themen? Und wenn Sie es merken: Wo erkennen Sie Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede? Und sind diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten für Sie klar Ost und West zuzuordnen?
Mir geht es da inzwischen sehr unterschiedlich, je nachdem, worüber gesprochen wird, wo ich mich befinde, und über welche Zeit wir sprechen. Da bilde ich dann mit ganz unterschiedlichen Menschen ein Wir, manchmal ein sehr homogenes Ost-Wir, manchmal ein komplett gemischtes. Manchmal – immer öfter – ist es für mein heutiges Leben überhaupt nicht mehr wichtig. Und doch taucht dieses „Wir Ostdeutschen“, „Wir Westdeutschen“ in Gesprächen immer noch und immer wieder auf. Vielleicht ist es an der Zeit darüber zu reden, wer „wir“ sind und welches „Wir“ wir mit wem teilen.
Was bedeutet das Wort „wir“ eigentlich von seiner Wortbedeutung her? Im Duden ist da zum Wort allein nicht viel zu holen. Ohne Umschweife wird übergeleitet zum „Wir-Gefühl“ als Gemeinsamkeit, Gemeinschaft, Solidarität, Zusammenhalt und Gemeinschafts- oder Zusammengehörigkeitsgefühl. Das „Wir“ könnte also etwas sein, das sich bildet, wenn ich etwas gemeinsam mit anderen erlebt habe – je tiefer das gemeinsame Erleben desto stärker.
Nehmen wir uns also das Thema Erinnerung an 30 Jahre Friedliche Revolution und deutsche Einheit vor. Mit wem teile ich, die damals 25-jährige Ostdeutsche, ein Wir-Gefühl durch gemeinsam Erlebtes, wenn ich mit anderen über 30 Jahre deutsche Einheit und auch den bewegenden Herbst 1989 spreche?
Ich arbeite als Referentin für politisch-historische Erwachsenenbildung bei der Brandenburgischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur (LAkD). In dem Kontext habe ich 2019 in sieben Orten des Landes Brandenburg Gesprächsabende und einen Gesprächsvormittag zur Erinnerung an die Ereignisse des Herbstes 1989 und die Friedliche Revolution moderiert. Dabei habe ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gefragt: „Was war das einschneidendste Erlebnis im Jahr 1989, an das Sie sich erinnern?“ Daraufhin wurden viele einzelne Geschichten und Momente erzählt, die sich in die Gedächtnisse eingebrannt haben.
In dieses Wir des Aufbruchs mischen sich viele einzelne Erlebnisse, die aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln auf das kollektive Erlebnis des Herbstes 1989 zurückschauen. War ich aktiv dabei? War ich zögerlich? Habe ich mich ganz wohl gefühlt in der überschaubaren DDR? Ging mir das alles zu schnell? Hätte ich mich gern in eine demokratisch veränderte DDR eingebracht oder ein verfasstes Deutschland gemeinsam neu gestaltet? Da zersplittert das vermeintliche „Wir“ in Ostdeutschland plötzlich sehr schnell. Andere „Wir“ finden sich zusammen, vor allem auf dem Weg hin zur deutschen Einheit.
In meiner letzten Arbeitsstelle habe ich mit meinem Kollegen Axel sehr intensiv zusammengearbeitet und dabei immer wieder vergessen, dass er bei Bremen aufgewachsen ist, so sehr waren wir uns in unserer antirassistischen, demokratischen Haltung in der Bildungsarbeit einig. Immer mehr verwischt sich für mich – vor allem in den Begegnungen, die ich in meiner Arbeit und in der Kirche habe – die Frage der Herkunft aus Ost oder West zu dem Wir der gemeinsamen Arbeit oder geistlichen Begegnung.
Im Oktober 2019 war ich, nunmehr in Berlin wohnend, zum Geburtstag meines alten Onkels, der im Alter ebenfalls nach Berlin gezogen ist. Dort traf ich auf meine Cousins und Cousinen – meine Westverwandtschaft. Wir speisten, erzählten, diskutierten über Politik und waren uns erstaunlich einig, trotz unterschiedlicher Erfahrungen. 30 Jahre deutsche Einheit haben uns zu einem neuen Familien-Wir wachsen lassen, bei dem die Geburt in Ost oder West immer weniger eine Rolle spielt.
Das also ist mein Fazit: Das mit dem „Wir“ ist so eine Sache. Es ist sehr vielfältig und im Laufe eines Lebens wandelbar. Manche „Wirs“ habe ich neu gefunden, und sie bereichern mein Leben. Manche habe ich wieder verloren. Dann habe ich sie ziehen lassen oder darum gerungen. immer wieder kann und muss ich mich neu orientieren, neugierig sein. Ich finde das sehr spannend.
Die Verortung in einem Wir gemeinschaftlicher Erfahrungen hilft mir zu wissen, woher ich komme, auf welchem Fundament der Erfahrungen ich stehe, welche Werte mich geprägt haben. Es kann mir auch helfen, bei meinem Gegenüber anzuknüpfen und zu fragen, ob sie oder er etwas erlebt hat, das als „großes Wir“ beschrieben wird. Wichtig wäre aber für uns alle, diese – hier oder in Zeitungen und anderen Beiträgen – beschriebenen „Wirs“ nicht als starre Gebilde zu begreifen und festzuschreiben, sondern neugierig zu bleiben, hören zu wollen, was mein Gegenüber wirklich erlebt hat. Bei mir löst sich das „Wir“ Ost – „Ihr“ West vor allem dadurch auf, dass ich Menschen begegne, mit ihnen arbeite, singe, plane.
Ich merke dann schon, dass sie oder er aus dem Westen kommt. Aber das ist Bereicherung; Erfahrungen und Bilder sind zu diskutieren. Wichtig ist, was sie oder ihn heute prägt. Denn darauf kommt es an: Wer sind wir heute, wofür setzen wir uns, geprägt durch unsere unterschiedlichen Erfahrungen, ein? Wenn wir die „Wirs“ als Vielfalt begreifen, nicht als starre Zuordnung, könnten wir der oder dem anderen wirklich auf die Spur kommen und Erstaunliches erleben.
Hinweis für Leiter*innen: Je nach verfügbarer Zeit und Interesse können Sie in der Gruppe allgemein zum Thema „Wir“ arbeiten oder den Fokus auf den Aspekt „30 Jahre deutsche Einheit“ legen. Wenn Sie beide Aspekte bearbeiten wollen, sollten Sie dafür zwei Treffen vorsehen.
Variante 1
Jede und jeder ist viele „Wir“
Menschen leben in vielen verschiedenen Bezügen mit anderen Menschen zusammen – niemand ist eine Insel. Jede und jeder ist also viele „Wir“. Dabei entsteht unweigerlich ein mehr oder weniger intensives Wir-Gefühl.
Überlegen Sie: Durch welche Erlebnisse – in ihrer Familie, in der Schule, im Freundeskreis, bei der Arbeit, in der Kirchengemeinde – haben Sie ein „Wir“-Gefühl entwickelt? Schreiben Sie auf unterschiedlichen Moderationskarten oder kleinen Zetteln je ein Stichwort dazu auf. [ circa 10 Minuten ]
Erzählen Sie: Welches „Wir“ hat Ihr Leben besonders geprägt? [ evtl. in Kleingruppen; circa 30 Minuten ]
Tauschen Sie sich aus: Kennen Sie Situationen, in denen Sie das vage Gefühl oder die sichere Erkenntnis hatten, dass ein „Wir“ für Sie nicht (mehr) stimmt? Wie sind Sie damit umgegangen? [ circa 30 Minuten ]
Variante 2:
Wir“ Ostdeutschen – „Wir“ Westdeutschen
Erinnern Sie sich: Wie haben Sie die Friedliche Revolution / die deutsche Einheit erlebt? [ circa 15 Minuten ]
Tauschen Sie sich aus: Vor allem in Gesprächen zwischen Ost- und Westdeutschen taucht oft ein „Wir“ auf: „Wir“ haben damals… – Bei genauerem Hinsehen wird dabei schnell deutlich, dass es dieses „Wir Ostdeutschen“ / „Wir Westdeutschen“ weder in der DDR noch in der BRD gegeben hat. Welchen „Wirs“ in Ost- oder Westdeutschland fühlen sie sich nah oder zugehörig? [ circa 20 Minuten ]
Lesen Sie gemeinsam den Artikel. [ circa 20 Minuten ]
Vergleichen Sie Ihre eigenen Erfahrungen mit den Erfahrungen der Autorin. Merken Sie auch, dass jemand aus dem Osten / aus dem Westen kommt? Und wenn ja: Woran merken Sie das? Und wie gehen Sie damit um? [ circa 30 Minuten ]
Susanne Kschenka ist Volljuristin und Mediatorin. 1990 war sie Abgeordnete in der ersten frei ge- wählten Volkskammer der DDR. Sie hat zehn Jahre in der Mobilen Beratung zum Umgang mit Rechts- extremismus in Südbrandenburg gearbeitet, heute ist sie Referentin bei der Aufarbeitungsbeauftragten des Landes Brandenburg. Ehrenamtlich hat sie über viele Jahre aktiv in der Evangelischen Frauenarbeit in Forst (Lausitz) mitgearbeitet.
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