Ausgabe 1 / 2018 Artikel von Mareike Rückziegel

Erzähl doch mal!

Erfahrungen teilen, Geschichte schreiben

Von Mareike Rückziegel

Bis 1977 musste eine Frau ihren Mann um Erlaubnis fragen, wenn sie arbeiten wollte. Das hat sich zum Glück geändert – und trotzdem sind viele Frauen noch immer nicht finanziell unabhängig“, erzählt Hilde M.. „Viele Dinge nehmen wir heute als gegeben hin, dabei mussten Frauen dafür oft Jahrzehnte lang kämpfen, zum Beispiel für das Recht zu wählen“, ergänzt Friederike A. und deutet auf ein Bild der Suffragetten, das in der Tischmitte liegt.

Gemeinsam mit fünf weiteren Frauen ihrer Frauengruppe nehmen sie an einem sogenannten Erzählcafé zum Thema „Gerechtigkeit“ teil, das der Landesverband Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V. (EFHN) erarbeitet hat.

Seit 110 Jahren sind Frauen in der kirchlichen und verbandlichen Frauenarbeit auf dem Gebiet der heutigen Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau aktiv. Viel haben sie in dieser Zeit bewegt. Da gibt es einiges zu erzählen. Von großen Kämpfen und kleinen Siegen. Davon, wie sich die Gesellschaft und mit ihr das Leben von Frauen in dieser Zeit verändert hat. Die Zeitzeuginnen, die einen Abschnitt dieser Geschichte näherbringen, sind bis heute Mitglieder in den Frauengruppen vor Ort. Sie haben die Geschichte miterlebt und mitgeschrieben. Das Erzählcafé schafft einen Ort, an dem sie ihre Erfahrungen miteinander teilen können: Hier erhalten ihre Geschichten Raum und beleben damit die so wichtige Kultur des Erzählens neu.

Mit einer Geschichte fing alles an. Damit, dass Menschen einander von ihren Erfahrungen mit Gott erzählt haben. Unsere jüdisch-christliche Tradition wurzelt in den Erzählungen dieser ersten Zeuginnen und Zeugen. Ohne sie wüssten wir nichts von dem Gott Israels, der die Menschen aus Ägypten befreit hat. Und ohne sie wüssten wir nichts von Jesus Christus, in dem Gottes Liebe ein menschliches Angesicht bekam. Erzählungen sind wichtig. Sie verankern uns in unserer Geschichte. Das zeigen nicht nur die Erfahrungen der Frauen in Hessen und Nassau in ihren Erzählcafés – jede einzelne von uns ist Teil der Geschichte. Erzählen Sie doch mal!

„Erzähl‘ doch mal!“ Dazu fordern Kinder ihre Eltern und Verwandten häufig auf. Denn schon die Kleinen wissen, wie spannend es ist, Omas Geschichten zu lauschen und dabei in vergangene  Zeiten einzutauchen. Genau darum geht es auch im Frauen-Erzählcafé: gemeinsam eine Welt zu betreten, um miteinander ein Bild zu einem Thema zu zeichnen – jede Teilnehmerin mit ihrer persönlichen Geschichte, mit ihrem eigenen Puzzlestück. Der Grundgedanke dabei ist, dass die einzelnen Biografien als Teil der allgemeinen Geschichtsschreibung wahrgenommen werden. Sie alle sind Zeitzeuginnen und vervollständigen das Mosaik, das sie von einer bestimmten zeitlichen Epoche oder einem Ereignis in der Geschichte haben. Dadurch wächst ein Bewusstsein für die gemeinsame Lebens- und Welterfahrung. Und dafür, was schon alles geleistet wurde, und wo es noch etwas zu tun gibt. Erzählcafés eigenen sich daher bestens, um in angenehmer Atmosphäre bei Kaffee und Kuchen gemeinsam spannende Themen zu diskutieren – und Wissen zu teilen. Sie sind eine niedrigschwellige Methode, mit der ein Gruppengespräch geleitet und moderiert werden kann.

Und so geht´s  Vorbereitet wird ein Erzählcafé in der Regel von einer Gruppenleiterin, die später auch die Moderation übernimmt. Sie sucht geeignete Erzählerinnen aus und bespricht vorab mit ihnen ausgewählte Fragen. Zu Beginn der Veranstaltung begrüßt sie die Teilnehmenden, stellt die Erzählerinnen vor und leitet ins Thema ein.

Dann starten die zwei bis vier Gesprächsrunden, in der die Moderatorin die Anwesenden befragt, Redebeiträge sammelt und das Gespräch strukturiert. Mit historischen Bildern, Zitaten oder Postkarten setzt sie thematisch passende Impulse und regt den Austausch an. Das Publikum beteiligt sich mit eigenen Fragen und Gedanken am Gespräch und ergänzt persönliche Erfahrungen. Zum Abschluss des Erzählcafés fasst die Moderatorin die zentralen Punkte noch einmal zusammen und spricht einen Segen.

In einer kleinen Gruppe sind keine ausgewählten Erzählerinnen nötig. Das Gespräch kann dann direkt mit der ganzen Gruppe durchgeführt werden. Als frauenpolitische Themen eigenen sich zum Beispiel die Felder Gerechtigkeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Frauengesundheit und Mitbestimmung. Materialien, Themen-Postkarten und weitere Anleitungen finden Sie im Materialheft „Erzähl‘ doch mal – vier Erzählcafés für Frauengruppen“ der Evangelischen Frauen in Hessen und Nassau.

Vom gefürchteten Frauenwahlrecht hin zur Wahlpflicht – Ein Nachmittag im Darmstädter Erzählcafé „Gerechtigkeit! Haben wir schon alles erreicht?“
Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein ganz gewöhnliches Beisammensein in gemütlicher Kaffeehaus-Atmosphäre. Liebevoll gedeckte Tische, frischer Kaffee und duftender Apfelkuchen laden ein sich wohl zu fühlen. Sieben Frauen sind heute ins Katharina-Zell-Haus gekommen – mit einem besonderen Anliegen. Sie wollen sich austauschen, sich gegenseitig zuhören und gemeinsam ein wichtiges Thema besprechen, das sie seit Jahren umtreibt: Gerechtigkeit, vor allem Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen.

„Viele Männer und auch Frauen sind der Meinung, wir seien heute alle gleichberechtigt. Frauen sind gut ausgebildet und können frei entscheiden, welchen Beruf sie ausüben und wie sie leben wollen. Sie können, ebenso wie Männer, ihr Leben selbst gestalten. Reicht das nicht aus, um von Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern zu sprechen?“ – Mit dieser Einführung begrüßt die Moderatorin Renate Drevenšek, Referentin für Frauenarbeit im Landesverband EFHN, die Runde.
Sie gibt einen Ausblick auf die nächsten 60 Minuten: „Heute wollen wir etwas genauer auf die Frage nach der Gerechtigkeit für Frauen schauen. Wir wollen nach unseren eigenen Erfahrungen fragen und den Bogen spannen von dem, was für Frauen schon erreicht wurde, hin zu dem, was heute noch zu tun ist.“ Bevor es nach einer kurzen thematischen Einführung ins Erzählen geht, legt die Gruppenleiterin eine Postkarte auf den Tisch und richtet eine Frage an die Frauen: „Was haben die edlen Damen mit den auffallenden Hüten mit unserem Thema zu tun?“

Eine Teilnehmerin erkennt sofort, dass es sich hier um eine Demonstration von Suffragetten 1912 in Berlin handelt. „Suffragetten waren vor allem in Großbritannien und den USA organisierte Frauenrechtlerinnen, die sich mit vorwiegend passivem Widerstand und Störungen öffentlicher Veranstaltungen – bis hin zum Hungerstreik – für das Wahlrecht von Frauen einsetzten“, ergänzt Renate Drevenšek. Und das taten sie mit Erfolg: 1918 wird in der Weimarer Verfassung das Wahlrecht für Frauen verankert. 1919 gehen Frauen erstmals zur Wahl des Reichstags an die Wahlurnen; die Beteiligung der Frauen liegt bei 82,3 Prozent.

„Unvorstellbar, dass Frauen so lange nicht wählen durften! Die Möglichkeit, politisch mitzubestimmen, ist für mich nicht mehr wegzudenken. Gerade wenn es darum geht, die Ungerechtigkeit zwischen Männern und Frauen, die es ja spürbar noch gibt, zu bekämpfen“, so Teilnehmerin Friederike A. auf die Frage, wie sich diese gesetzliche Veränderung wohl auf den Alltag der Teilnehmerinnen ausgewirkt hat. „Das sehe ich auch so. Es sind ja immer noch überwiegend Frauen, die ihre Arbeitszeit reduzieren, wenn eine Familie gegründet wird. Frauen verdienen immer noch weniger als Männer und sind auch viel seltener in Vorständen vertreten. Da gibt es politisch noch viel zu tun!“ ergänzt Hilde M.. „Stellt euch vor: Als ich mit 20 in Liechtenstein gewohnt habe, durften Frauen dort nicht wählen. Es gab sogar zwei Volksabstimmungen, bei denen ein Frauenwahlrecht abgelehnt wurde. Erst 1984 konnten wir zum ersten Mal unsere Stimme abgeben“, berichtet sie aus ihrer Studentenzeit.

Einen schönen Abschluss des Erzählcafés bildet das gemeinsame Singen und der anschließende Segen. „Lass uns in deinem Namen, Herr, die nötigen Schritte tun. Gib uns den Mut, voll Glauben, Herr, heute und morgen zu handeln“, ertönen die Zeilen des Lieds 614 aus dem Evangelischen Gesangbuch. Alle Frauen erheben sich, legen ihre Hände in die ihrer Nachbarinnen und erhalten den Segen Gottes:

Gott,
Du Quelle unseres Lebens,
Du Hoffnung unseres Heils, segne uns, damit wir ein Segen sind.
Schärfe unsere Augen für die Realitäten von Frauen
und schenke uns ein offenes Herz.
Wecke deine Kraft in uns für Veränderungen,
erhalte unsere Hoffnung auf Gerechtigkeit
und mach uns weise.
Leite und begleite uns mit Deinem Segen.
Amen.

Nach den knapp anderthalb Stunden im Erzählcafé resümiert eine Teilnehmerin: „Ein wunderbares wie spannendes Erlebnis, den unterschiedlichen Erzählungen und Erfahrungen zu lauschen und über das wichtige Thema Gerechtigkeit zu diskutieren.“ Eine andere bedankt sich bei der Moderatorin. „Mich persönlich hat vor allem die Geschichte von Susanne F. bewegt, die nach der Familienpause nicht wieder in ihren Beruf als Lehrerin zurückkehren konnte, da ihr wenige Wochen bis zur Verbeamtung fehlten – und die daraufhin noch einmal studierte und eine beeindruckende Karriere als Journalistin und Theaterwissenschaftlerin hingelegt hat … eine ganz neue Erfahrung, sich in einer so ungezwungenen und beinahe schon familiären Atmosphäre zu treffen und einfach drauflos zu erzählen. Diesen Nachmittag werde ich so schnell nicht vergessen.“

Frauenwahlrecht
wussten Sie schon, dass damals im Reichstag befürchtet wurde, „in der Familie würde das Frauenwahlrecht die merkwürdigsten und bedauerlichsten Folgen haben“? Auch längst nicht alle Frauen befürworteten das Wahlrecht. Genauso wie die Kirche mit ihrem auf das Dienen bezogene Frauenbild die „aufkommenden demokratischen, liberalen und feministischen Bewegungen“ bekämpfte. 1919 machte die Kirche eine schnelle Kehrtwende; nun war ihr Slogan für die Frauen „Wahlrecht ist Wahlpflicht“.

Erzählcafé auf einen Blick
•  Begrüßung durch die Moderatorin
•  Vorstellen der Erzählerinnen
•  Einstieg ins Thema
•  2-4 Gesprächsrunden mit den vorbereiteten Fragen zur jeweiligen Postkarte
und Austausch in der Runde
•  Zusammenfassung
•  Abschluss und Segen

Materialheft für Frauengruppen
„Erzähl‘ doch mal – vier Erzählcafés für Frauengruppen“ Bei Ihnen steht ein Gemeindefest an oder der Internationale Frauentag rückt näher? Sie überlegen, in diesem Rahmen oder auch zu einem anderen Anlass selbst ein Erzählcafé auszurichten? Dann werfen Sie einen Blick in die Arbeitshilfe „Erzähl‘ doch mal – vier Erzählcafés für Frauengruppen“ des Landesverbands Evangelische Frauen in Hessen und Nassau e.V. Das Heft bietet viele hilfreiche Inspirationen, Materialien, Abläufe und Vorbereitungstipps für die Gestaltung von vier Gruppenstunden zu Themen, die bis heute die Frauenarbeit prägen: Gerechtigkeit, Vereinbarkeit, Frauengesundheit und Mitbestimmung. Steuern auch Sie mit Ihrer Gemeinde Ihre ganz persönlichen Erzählungen zur Geschichte bei, die uns alle verbindet!

Zum Materialheft gehört ein Postkartenset bestehend aus vier Postkarten.
Bestellmöglichkeiten:
www.evangelischefrauen.de > shop > Materialhefte
sabine.gruenewald@evangelischefrauen.de
Telefon  (0 61 51) 66 90 152
Kosten: Materialheft mit Postkarten-Set (bestehend aus vier Karten): 4,00 Euro, ab 10 Sets 3,50 Euro; ab 30 Sets 3,00 Euro.

Mareike Rückziegel hat Literatur-, Film- und Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte studiert. Sie ist seit fast 20 Jahren in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig, seit 2015 beim Landesverband Evangelische Frauen in Hessen und Nassau.

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