Ausgabe 2 / 2022 Bibelarbeit von Kristina Dronsch

Inkluvisionen

Wider den blinden Fleck in den Blindenheilungserzählungen im Markusevangelium

Von Kristina Dronsch

Am 5. September 1977 startete die Raumsonde Voyager von Cape Canaveral aus ihre Mission der Erforschung des äußeren Planetensystems und des interstellaren Raumes. Mit an Bord: die Voyager Golden Record. Eine vergoldete Datenplatte mit Informationen von der Erde in Bild und Ton. Hergestellt, um möglichen außerirdischen Lebensformen einen Einblick in das Leben auf der Erde zu geben. Mit Grußbotschaften in 55 Sprachen, allen möglichen Geräuschen von der Erde und 90 Minuten Musik – ethnische Musik, Stücke von Bach, Beethoven und Mozart. Und der Spiritual „Dark was the night, cold was the ground“ des blinden Singersongwriters Blind Willie Johnson.

Johnsons Song reiste als Message ins All, um Zeugnis abzulegen von einer Gesellschaft, die auf Fortschritt und Innovation setzt, die etwas zu sagen hat. Blind Willie Johnson war gerade mal 30 Jahre alt, als er seinen Song 1927 aufnahm; er erfuhr nie, dass sein Spiritual der am weitesten gereiste Song der Welt wurde. Er starb verarmt, seine Musik blieb zu seinen Lebzeiten ungehört. Auch Eric Clapton, Bob Dylan oder Led Zeppelin, die sich auf seine Interpretationen bezogen, vergaßen Johnson zu erwähnen.

Die bis ins All getragene Botschaft an die terrestrischen und extraterrestrischen Wesen lautete: Wir Erdbewohner*innen sind Agent*innen des Fortschritts. Menschlichkeit und Vernunft sind der Kompass unseres Handelns – mit dem Ziel, Innovation und Wissenschaft in die Welt(en) zu bringen. Die Geschichte des Spirituals an Bord der Raumsonde steht paradigmatisch für das, was ich den tätigen Fortschrittsglauben nennen möchte, der das 19. und 20. Jahrhundert begleitete. Das Lied von Johnson und er selbst wurden dieser Botschaft einverleibt. Es wurde sozusagen über ihn hinweggesehen, um des großen Ganzen willen, um das es ging.

Diese Fortschrittsgläubigkeit wirkte sich auch auf die Interpretation biblischer Heilungsgeschichten aus. Davon gibt es viele in der gesamten Erzählüberlieferung des Neuen Testaments – Blindenheilungsgeschichten hingegen wenige. Prominent finden sich zwei im Markusevangelium, dem vermutlich ältesten Evangelium des kanonischen Neuen Testaments. Während die Bartimäusgeschichte (Mk 10,45-52) sich ebenfalls bei Matthäus und Lukas findet (vgl. Mt 20,29-34; Lk 18,35-43), wurde die Erzählung von dem namenlosen Blinden (Mk 8,22-26) von beiden nicht übernommen.

Was aber, meist implizit, in modernen historisch-kritisch inspirierten Auslegungen dieser beiden markinischen Blindenheilungsgeschichten übernommen wurde, ist eine bestimmte Sicht auf Krankheit. Leicht wird vergessen, dass die Blütezeit der historisch-kritischen Bibelinterpretation in Europa mit der goldenen Zeit der Innovation in Medizin und Technik und der beispiellosen Fortschrittsgläubigkeit dieser Epoche zusammenfällt. Ganz nach dem Motto „Wer heilt, verändert die Welt“ wurden die beiden Blindenheilungsgeschichten zu Erfolgsgeschichten, die für die Überwindung einer als pathologisch angesehenen Situation stehen. Die Fortschrittsgläubigkeit des 19. und 20. Jahrhunderts sprach eine große Einladung zur Mitwirkung an der Überwindung pathologischer Zustände aus. Und Jesus wurde einer ihrer Mitstreiter*innen. Das Jesusbild, das sich in der neutestamentlichen Wissenschaft durchsetzte, erschuf einen Jesus, der aktiv an einer neuen, besseren Welt mitwirkte – ähnlich der Mission der Raumsonde Voyager.

Dieses Jesusbild beruhte auf der unhinterfragten Annahme, Heilung wäre ein selbstverständlicher Wunsch aller Menschen und ganz besonders derer, die von Krankheit betroffen sind. Zu Hilfe kam diesem Jesusbild eine heilszentrierte Theologie, die mit den Heilungsgeschichten in Verbindung gesetzt wurde und im Ergebnis zu einem theologisch konnotierten Fortschrittsglauben führte: Jesu heilendes Handeln wurde in die Vision des zukünftigen Heils eingeordnet – von einem Himmel, in dem es keine Menschen mit Behinderung mehr geben wird. Heil und Heilung fielen im Wirken Jesu zusammen und waren der tatkräftige Nachweis, dass auch Jesus mit dem Fortschrittsglauben Schritt halten konnte.

Blinde Flecken sichtbar machen
Noch vor dem Aufkommen einer dis/abilitykritischen Hermeneutik im Umgang mit Heilungserzählungen und einer gesellschaftlichen Inklusionsdebatte hat Ulrich Bach maßgeblich dazu beigetragen, blinde Flecken der Interpretation biblischer Blindenheilungsgeschichten im Rahmen des tätigen Fortschrittsglaubens sichtbar zu machen. Sein zentraler Ansatz ist eine „Theologie nach Hadamar“: „Ob ein Mensch Mann ist oder Frau, blind oder sehend, schwarz oder weiß, dynamisch-aktiv oder desorientiert-pflegeabhängig, ist theologisch (von Gott her, im Blick auf Heil oder Unheil) absolut ohne Bedeutung. Von Bedeutung ist allein, dass das alles ohne Bedeutung ist. Das allerdings ist von Bedeutung; denn es entscheidet darüber, ob wir noch ,dem Alten‘ [der Theologie vor Hadamar, KD] zugehören (wir alle, ich denke jetzt etwa nicht nur an die Ausgegrenzten, sondern besonders stark an die unbewusst und ungewollt Ausgrenzenden), oder ob es unter uns ,neue Kreatur‘ gibt: alle allzumal einer in Christus, die Familie Gottes, der Leib Christi, die Gemeinde als ,Gegenwirklichkeit zur Apartheid.‘“1

Nach Bach führt der tätige Fortschrittsglaube in eine gesundheits- und leistungsorientierte Apartheidstheologie. Die Inhalte und Vorstellungen und die Art und Weise, wie über Gott und Jesus gesprochen wird, verdanken sich dabei einer Theologie der Stärke. Damit wird vor dem Hintergrund der Blindenheilungserzählungen entscheidend, wie über Jesus und sein Wirken gesprochen wird: Meine Vorstellungen von Jesus und meine Art und Weise über Jesus zu sprechen entscheiden darüber, ob ich die Apartheitstheologie fortsetze oder nicht.

Erst wenn Heil und Heilung als qualitative Größen theologisch voneinander abgegrenzt werden, beginne ich zu ahnen, wie eine Theologie jenseits des Fortschrittsglaubens aussehen kann. Um des Heils teilhaftig zu sein, bedarf kein Mensch der Heilung im normativen medizinisch-therapeutischen Sinne.

Wer nicht mehr durch die Brille des tätigen Fortschrittsglaubens blickt, wird gewahr, dass Heilung in den Blindenheilungsgeschichten nichts ist, was das Leben dieser oder jener Person verbessert. Vielmehr steht zur Debatte, ob und wie die Beziehungen der Menschen untereinander und zu Gott verbessert werden. Heilung in diesem sozialen Sinne meint dann nichts anderes als Inklusion. Und Inklusion ist eine gesellschaftlich-politische Aufgabe. Dieser „politisch soziale Heilungsauftrag“ ist mittels entsprechender Theologie zu legitimieren und beginnt bei den biblischen Texten.

Inkluvisionen.
Entdeckungen im Markusevangelium
Das Markusevangelium, lange als theologisch und erzählerisch anspruchsloser Text tituliert, erlebt seit ungefähr sechzig Jahren einen unglaublichen Boom. Dieser mündet in der Überzeugung, dass das Evangelium als Erzählung zu verstehen ist, die sich erst im Lesen des ganzen Markustextes erschließt. Doch trotz des Hypes, den dieser Text erlebt: Es ist das Evangelium, das am wenigsten Wirkung in der Kirchen- und Kulturgeschichte entfaltet hat.

Warum das so ist? Weil der Text selbst jedem Versuch widersteht, dem Evangelium die Zähne zu ziehen. Denn es ist ein Text, der radikal zum Umdenken auffordert. Wer bereit ist, das Markusevangelium als Erzählung mit Biss zu lesen, lässt sich in diese Geschichte verstricken, die – vermittelt über den Boten Jesus, dem Sohn Gottes – eine Geschichte vom Möglichwerden politischer Heilung ist. Politik und Evangelium sind im Text des Evangeliums aufeinander bezogen. Zur Zeit des Markusevangeliums gab es weder einen religionsfreien Raum des Politischen noch einen politikfreien Raum des Religiösen. Deutlich wird dies schon an den ersten Worten des markinischen Jesus in Mk 1,14f.: „Nach der Auslieferung des Johannes kam Jesus nach Galiläa, verkündend die Frohbotschaft Gottes: ‚Gefüllt ist der Augenblick und nahe gekommen ist die Königsherrschaft Gottes. Denkt um und vertraut auf die Frohbotschaft!‘“2 Dieses Umdenken ist das Programm, das die gesamte Erzählung des Markusevangeliums wie ein roter Faden durchläuft. Es beinhaltet ein Umdenken über Macht (griech. exousia), über Gemeinschaft und über die Nächste/den Nächsten. Die Nächste zu sehen, erfordert eine Umkehr der eigenen Perspektive, um selbst anders zu sehen, die Andere zu sehen. Dazu lädt Mk 8,22-26 ein.

Wer diese Geschichte im Sinne einer sozialen Heilung liest, bei der es um Umdenken geht, kann entdecken: Das ist eine Geschichte, die von der Frage „Siehst du etwas?“ über „Menschen sehen wie…“ zu „sonnenklar sehen“ führt. Es ist eine Geschichte, die lehrt, dass die Andere anders und mehr ist als das, was man in ihr sieht. Wer die Menschen sonnenklar sieht, sieht mehr, als was man an ihnen oder wie man sie sieht. Die Nächste sehen wir jedoch nicht, wenn wir die Andere nur als uns ausgeliefert sehen. Davon handelt Mk 10,46ff. Wer die Erzählung von Bartimäus im Sinne politischer Heilung liest, wird entdecken, dass sie in eine konkrete Inkluvision mündet: Sie macht Bartimäus sichtbar – für die Menge, für die Jünger*innen Jesu, für mich als Leserin. Denn die Erzählung dekonstruiert nachhaltig, dass er ist, wie man ihn sieht, nämlich ein blinder Bettler. Das Gespräch zwischen Bartimäus und Jesus macht deutlich, was Den-Anderen-Sehen heißt: nicht Sichtbarmachen, nicht Enthüllen, sondern Sich-zum-Anderen-Verhalten. 
Und das beginnt mit der Frage: „Was willst du, soll ich dir tun?“ (Mk 10,51).

Dr. Kristina Dronsch, Jahrgang 1971, studierte Ev. Theologie und ist Inhaberin der Stiftungsprofessur Diakonik an der Evangelischen Hochschule Berlin.

Zum Weiterlesen:


Ulrich Bach: Getrenntes wird versöhnt Wider den Sozialrassismus in Theologie und Kirche, Neukirchen-Vluyn 1991.
Nancy L. Eiesland: Der behinderte Gott Anstöße zu einer Befreiungstheologie der Behinderung, übersetzt und eingeleitet von Werner Schüßler, Würzburg 2018.
Markus Schiefer Ferrari: Exklusive Angebote Biblische Heilungsgeschichten inklusiv gelesen, Ostfildern 2017.

Anmerkungen
1)  Ulrich Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn 2006, 26.
2)  Die Übersetzung der markinischen Textstellen folgt Stefan Alkier/Thomas Paulsen, Die Evangelien nach Markus und Matthäus. Neu übersetzt und mit Überlegungen zur Sprache des Neuen Testaments, zur Gattung der Evangelien und zur intertextuellen Schreibweise sowie mit einem Glossar (Frankfurter Neues Testament 2), Paderborn 2021.

_________

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / ca. 60 min je Einheit

1 Bibelarbeit

Jede Tn erhält eine Kopie der Bibelarbeit.

Lesen Sie die Bartimäusgeschichte
  (Mk 10,46-52) und die Erzählung von dem namenlosen Blinden (Mk 8,22-26) vor.
Lesen Sie den Text der Bibelarbeit gemeinsam. Je eine TN liest abschnittsweise laut vor; die
Mitlesenden notieren ein ? für Verständnisfragen, ein ! für Zustimmung oder Widerspruch zu einem
Gedanken.
Laden Sie die TN ein, einen Satz der Bibelarbeit, der sie besonders anspricht, in den Raum zu sprechen.
Klären Sie die Fragezeichen und besprechen anhand der notierten Ausrufezeichen Gedanken der
Bibelarbeit.

2 Politisch werden
Der folgende methodische Vorschlag kann – in einem zweiten Treffen – als eine Vertiefung, die zum politischen Handeln führt, aufgenommen werden. Er kann aber auch ohne Bezug auf die Bibelarbeit genutzt werden, etwa, wenn eine Gruppe über einen (neuen) Schwerpunkt der Gemeindearbeit nachdenken möchte.

Die Einheit regt an, sich die Inkluvisionist*in lebendig vorzustellen und sie zu einer Freund*in werden zu lassen. Es geht um eine Situation, in der die Inkluvisionist*in im gesellschaftlich-politischen Raum etwas tun will.

Entsprechend dem markinischen Anspruch des „Umdenkens, um Unsichtbares sichtbar zu machen“ wird sie hier und jetzt aktiv. Zum Beispiel so: Sie gestaltet Altsein (verändert Bildungschancen / engagiert sich gegen den Klimawandel / lädt zum runden Tisch über Einsamkeit in unserer Gesellschaft ein / spricht mit ihrer Kirchengemeinde über die Integration von Geflüchteten…).

vorbereiten Legen Sie eine Szene fest, die relevant für die Gruppe ist, und schreiben sie auf eine Karteikarte.
– Schreiben Sie die Wortsilben
IN – KLU – VI – SI – ON – IST – *IN
groß auf je ein DIN-A4-Blatt (quer).
– Schreiben Sie folgende Fragen oben auf je ein Flipchart-Papier: Wie bin ich? Was sind meine Werte? Mit
wem habe ich es zu tun? Was macht mich besonders? Wofür kämpfe ich?

Ablauf
1  |  Verteilen Sie die Blätter mit den Wortsilben in der Mitte. Die TN bilden durch Zusammenlegen von max. 6 Blättern sinnvolle Wörter. Besprechen Sie, was diese Wörter (Inklusion, Vision, Visionist…) bedeuten. Erst dann legen Sie die 7 Blätter zu dem Wort INKLUVISIONIST*IN zusammen und besprechen mit den TN, was dieses Wort bedeutet – auch wenn es nicht im Duden steht. Jetzt holen Sie die Inkluvisionist*in als neue Freundin in Ihre Gruppe.

2  |  Beginnen Sie mit dem „Wie bin ich?“-Flipchart und skizzieren Sie Ihre Inkluvisionist*in mit Armen, Beinen, Kopf in der Mitte des Papiers; dito bei den Schritten 3-6. Die TN stellen sich vor, die Inkluvisionist*in sei eine Person, die sie persönlich kennen. Lassen Sie sie Adjektive und andere Begriffe finden, die diese Person charakterisieren, und schreiben die Antworten um die Figur herum.

3  |  Was sind meine Werte? Kleben Sie die Karteikarte mit der ausgewählten Szene (z.B. „Die Inkluvisionist*in spricht mit ihrer Kirchengemeinde über die Integration von Geflüchteten“) neben die Figur. Die TN besprechen in Kleingruppen, was die Inkluvisionist*in in der Situation sagen oder tun würde. Im Plenum werden die Antworten wieder schriftlich festgehalten. – dito bei den Schritten 4-7

4  |  Mit wem habe ich es zu tun? Mit wem verbringt die Inkluvisionist*in ihre Zeit? Zu welchen Gruppen gehört sie? Wo ist sie ehrenamtlich tätig? Wer ist auf sie angewiesen? Welche Gemeinsamkeiten weisen ihre Freund*innen auf?

5  |   Was macht mich besonders? Wie unterscheidet sich die Inkluvisionist*in von anderen Personen in Ihrem Bekanntenkreis? Wodurch sticht sie heraus? Wo liegen ihre Stärken? Was macht sie zu einer besonderen Freund*in?

6  |  Wofür kämpfe ich? Wovon will die Inkluvisionist*in andere überzeugen? Was motiviert sie? Was raubt ihr den Schlaf? Was tut sie für das gute gemeinsame Leben mit anderen? Welche Hindernisse muss sie überwinden?

7  |   Und was tun wir jetzt, um Geflüchtete in unsere Gemeinde zu integrieren, Altsein zu gestalten, uns gegen Klimawandel zu engagieren …?

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