Ob am 1. Mai, am Equal Pay Day oder bei „Fridays for Future“ – wenn irgendwo im Rhein-Main-Gebiet eine politische Aktion stattfindet, kann man fast sicher sein, dort Elfriede Harth zu treffen. Mal mit einem Schild, das für das Bedingungslose Grundeinkommen wirbt, mal ganz in den pink-violetten Farben der Care-Revolution, immer aber mit guter Laune, Ausdauer und Bereitschaft, nach neuen politischen Vernetzungen Ausschau zu halten.
Eigentlich hatte sich die 71-Jährige Offenbacherin vorgenommen, nur einen politischen Termin pro Woche zu haben. Aber meistens würden es doch zwei oder drei, erzählt sie im Interview. Denn sie geht nicht nur zu Demonstrationen und Veranstaltungen, sie organisiert auch selbst welche, bespielt die Facebook-Seite „Netzwerk Care Revolution Rhein-Main“ und ist Mitbegründerin der „Initiativgruppe Bedingungsloses Grundeinkommen Frankfurt und Rhein-Main“, für die sie auch einen regelmäßigen Newsletter verschickt.
Wie Elfriede Harth zur Care-Aktivistin wurde? „Durch die viele Care-Arbeit, die ich gemacht habe“, lautet die einfache Antwort. Elfriede Harth wurde 1949 als Älteste von sechs Geschwistern in Kolumbien geboren. Ihre Mutter war Kolumbianerin, der Vater, ein Deutscher, 1933 dorthin ausgewandert. „Lateinamerika war damals wie eine Kastengesellschaft“, erinnert sich Harth, „es gab Tätigkeiten, die waren unter der Würde von gewissen Leuten. Meine Mutter hat sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, sie zu tun.“ Für die Hausarbeit gab es Angestellte, die Kinder hatten ein Kindermädchen.
Das Gegenmodell dazu verkörperte die deutsche Großmutter, die gerne mit Schürze in der Küche stand und im Hausfrauendasein etwas Schönes sah. „Wenn sie uns besuchte, konnte sie sich fürchterlich darüber aufregen, dass meine Mutter die Hausangestellten einfach machen ließ, was sie wollten.“ Elfriede Harth lernte also von klein auf, dass Care-Arbeit keineswegs die natürliche Bestimmung einer Frau ist, sondern eine Möglichkeit sich zu betätigen, die man wählen kann.
Anfang der 1960er Jahre versuchte ihr Vater, wieder in Deutschland Fuß zu fassen. Für ihn klappte das nicht, aber durchaus für die Kinder, die dort in Internaten untergebracht wurden. So wurde Elfriede als Zwölfjährige für ihre jüngeren Schwestern und Brüder eine Art Mutterersatz. Und sie stellte fest, dass ihr das ziemlich viel Spaß machte: „Für mich war klar, dass ich 15 Kinder haben wollte, aber keinen Mann“, erinnert sie sich. Tatsächlich sind es dann fünf Kinder geworden, die heute zwischen 32 und 45 Jahre alt sind, und, Stand Sommer 2020, zwölf Enkelinnen und Enkel zwischen 2 und 22 Jahren.
Die Frage nach der Wertigkeit und der Sichtbarkeit der Arbeit, die mit Kindern verbunden ist, stellte sich Elfriede Harth schon früh. „Als ich das Abitur hatte, wollte mein Vater die jüngeren Kinder aus dem Internat abmelden, weil ich mich doch jetzt neben dem Studium um sie kümmern könnte. Aber das lehnte ich ab.“ Weil sie sich gut auskannte mit dem Kümmern, wusste sie, dass man das nicht eben mal nebenbei erledigen kann.
Elfriede Harth ging stattdessen nach Paris und studierte dort politische Wissenschaften. Sie heiratete früh, bekam aber erst nach dem Studium Kinder. „Mein Mann konnte gut kochen, aber er hat mir die Hausarbeit gerne überlassen“, erzählt sie. „Er hat mit den Kindern gespielt, aber zuständig war ich.“ Diese Rolle störte sie nicht. „Ich habe überhaupt nicht darunter gelitten.“ Auch nicht darunter, dass sie nur in Teilzeitjobs berufstätig sein konnte.
Die pronatalistische Politik Frankreichs stellte in diesen Jahren für kinderreiche Familien relativ viel Geld zur Verfügung. „Ich hätte die Kinder sowieso bekommen, aber das war natürlich super für uns.“ Warum eigentlich, so fragte sie, gibt es für Care-Arbeit nicht ganz selbstverständlich Geld, sondern nur, wenn der Staat Geburten fördern will? Schon damals, erzählt sie, habe sie eine Kalkulation aufgemacht: Wenn ein Kind ins Waisenhaus muss, kostete das den Staat monatlich 3000 Mark. Wo sind eigentlich die 15.000 Mark, die die Gesellschaft spart, weil ich sie tue? Warum gibt es Arbeiten, die nur gesehen und gewertet werden, wenn diejenigen, die sie tun, ausfallen?
„Ich bin total dafür, dass Frauen finanziell unabhängig sind“, sagt Elfriede Harth, „aber das muss doch nicht nur über eigene Erwerbsarbeit gehen. Warum soll eine Frau nicht viele Kinder haben, wenn sie das möchte?“ In der feministischen Ökonomie wird die Frage, wie sich Care-Arbeiten berechnen lassen, wie man sie volkswirtschaftlich kalkulieren soll, und wie man sie individuell entlohnen kann, schon seit Jahrzehnten diskutiert. Doch erst in jüngerer Zeit kommen diese Debatten so langsam in der breiteren Gesellschaft an.
Gerade in Krisenzeiten wird deutlich, dass die Einbeziehung von Frauen in die Erwerbsarbeitslogik noch immer nur an der Oberfläche traditioneller patriarchaler Rollenvorstellungen kratzt. Als wegen der Corona-Pandemie Kindertagesstätten und Schulen schließen mussten, gerieten Eltern in Stress, weil sich Homeoffice und Kinderbetreuung nicht einfach so vereinbaren lassen. Vieles blieb vor allem an den Müttern hängen, traditionelle Geschlechtsrollenmuster wurden in einer beängstigenden Geschwindigkeit reaktiviert. Unter dem Hashtag #coronaelternrechnenab wurde diesmal auch der volkswirtschaftliche Aspekt explizit thematisiert. Einfach nur Frauen in die traditionelle Männerwelt hinein zu emanzipieren, ändert nichts an den grundlegenden Defiziten dieser Kultur. Das ist der Grund, warum Elfriede Harth sich nicht nur für die Anerkennung von Care-Arbeit, sondern auch für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzt: Es wäre zumindest ein erster Schritt hin zu einer Ökonomie, in der soziale Absicherung nicht mehr ausschließlich an die Erwerbsarbeit geknüpft ist.
Die Vorstellung, dass Menschen nur arbeiten würden, wenn man ihnen Geld dafür gibt, ist mit Blick auf die viele unbezahlte Care-Arbeit, die – vor allem – Frauen leisten, einfach absurd.
Dass Elfriede Harth auch in ihrer Zeit als Alleinerziehende keine Geldsorgen hatte, lag daran, dass ihr Mann nach der Trennung immer pünktlich Unterhalt zahlte; viele andere Väter tun das bekanntlich nicht. Außerdem fand sie einen Job, den sie flexibel und von zuhause ausüben konnte: Neun Jahre lang arbeitet sie als Europa-Vertreterin für „Catholics for Choice“, eine US-amerikanische NGO, die sich für selbstbestimmte Schwangerschaften und damit auch für die Möglichkeit zur Abtreibung einsetzt. Zu ihren Hauptaufgaben gehörte es, bei EU-Parlamentarier*innen in Brüssel über die schwierigen und teils desolaten Umstände für ungewollt Schwangere in katholischen Ländern, vor allem in Süd- und Mittelamerika, aufzuklären.
Dass eine vielfache Mutter sich für die Legalisierung von Abtreibungen einsetzt, ist für Elfriede Harth nur konsequent. „Mir geht es um Selbstbestimmung. Jede Frau muss die Möglichkeit haben, so viele Kinder zu haben, wie sie möchte. Dafür braucht sie gute Infrastrukturen, Unterstützung und auch finanzielle Absicherung. Aber gleichzeitig muss jede Frau auch die Möglichkeit haben, keine Kinder zu bekommen, wenn sie das nicht möchte. Und dazu gehört das Recht auf Abtreibung.“ Es gehe bei all dem um etwas Größeres als nur um das Recht auf Abtreibung, betont Harth. Statt von „reproductive choice“ – also der Möglichkeit, im Fall einer Schwangerschaft zwischen Abtreibung und Austragen wählen zu können – spricht sie deshalb lieber von „reproductive justice“, also reproduktiver Gerechtigkeit. Dabei werden auch die größeren gesellschaftlichen Umstände in den Blick genommen: Wie müssen soziale Verhältnisse, materielle Absicherung und so weiter organisiert sein, damit Frauen sich wirklich in Freiheit für einen Lebensentwurf mit oder ohne Kinder entscheiden können?
„Man muss Ja sagen können, so wie man Nein sagen kann“, bringt es Harth auf den Punkt.
Und das gilt letztlich nicht nur für das Kinderhaben, sondern für jegliche Sorgearbeit. Auch dem 2014 gegründeten bundesweiten Netzwerk Care-Revolution, dessen Koordinierungs-Kreis Elfriede Harth zwischenzeitlich angehörte, ist genau das wichtig: dass kein Mensch gezwungen werden darf, sich aufgrund von Zuschreibungen oder Beziehungsstrukturen um andere Menschen kümmern zu müssen – ob Töchter oder Schwiegertöchter oder Migrantinnen oder Menschen aus niedrigeren sozialen Schichten. Zugleich sollen aber alle Menschen die Möglichkeit haben, sich um andere zu kümmern, wenn sie das möchten. Und zwar ohne durch Notwendigkeiten des Berufslebens oder den Zwang, Geld zu verdienen, daran gehindert zu werden. Elfriede Harth selbst hatte die Möglichkeit, ihre Mutter im Alter zu sich nach Paris zu holen und sich vier Jahre lang bis zu deren Tod um sie zu kümmern. Nachdem alle Kinder dann Abitur hatten und ihre eigenen Leben führten, entschloss sie sich 2006, wieder in ihr Geburtsland zurückzukehren. Die meisten ihrer Geschwister lebten inzwischen in Kolumbien, außerdem konnte sie in Bogotà ihre Arbeit für „Catholics for Choice“ fortführen – unter anderem organisierte sie Bildungsreisen für EU-Parlamentarier*innen nach Lateinamerika.
Die sechs Jahre, die sie dort ganz ohne Kinder oder andere Menschen, für die sie verantwortlich war, lebte, bezeichnet sie als „seltsam“. Danach zog Elfriede Harth nach Deutschland, um ihre Tochter zu unterstützen, die sich ein viertes Kind wünschte, aber nicht sicher war, ob sie das mit ihrer Berufstätigkeit unter einen Hut bringen könnte. Seither ist Elfriede Harth sozusagen „Oma-Backup“: Sie springt ein, wenn die fragile Balance zwischen Erwerbsarbeit, Kita und Schule mal nicht funktioniert, weil jemand krank wird, eine Epidemie ausbricht oder sonst etwas Unvorhergesehenes passiert. Denn auch das ist eine Besonderheit von „Care“: Man muss dabei viel mehr Puffer und Flexibilität einplanen als in anderen Wirtschaftszweigen. Weil sich beim Kümmern um Menschen vieles nicht aufschieben, rationalisieren, outsourcen lässt.
Heute lebt Elfriede Harth in Offenbach. Vier ihrer fünf Kinder leben hier in der Region, und zehn ihrer zwölf Enkelkinder. Das Kümmern macht ihr immer noch Spaß, aber nicht mehr als Hauptberuf. Einen Großteil ihrer Zeit steckt Harth nun in den politischen Aktivismus für ein Bedingungsloses Grundeinkommen und die „Care-Revolution“. Aber auch viele lokale Themen stehen bei ihr auf der Agenda; ganz wichtig ist ihr dabei das Thema Wohnen und steigende Mieten – ein Ärgernis in Metropolregionen wie Frankfurt und Offenbach. „Die Wohnung ist der Arbeitsplatz für die Care Arbeit“, sagt sie. „Wir brauchen bezahlbare, menschenfreundliche Wohnungen, aber auch ein gutes Wohnumfeld, sodass man in einer Viertelstunde alles Wichtige erreichen kann.“
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