Ausgabe 2 / 2018 Artikel von Susanne Sengstock

Mein Kopf gehört mir!

Evangelische Frauen zur Diskussion um das muslimische Kopftuch

Von Susanne Sengstock

Was Frau anzieht, ist – leider – nicht nur ihre ganz persönliche, private Frage und Entscheidung vor dem Kleiderschrank. Die unendliche „Kopftuchdebatte“ zeigt, dass Frauenkleidung auch Gegenstand höchst emotionaler Diskussionen sein kann. Denn noch immer ist Frauenkleidung nicht nur Mode, Ausdruck eines individuellen Stils, sondern auch ein politisches Symbol. Und unter Umständen auch ein religiöses Zeichen.

Evangelische Frauen werden von Medienvertreter*innen oft nach ihrer Position „zum Kopftuch“ gefragt. Grundsätzlich finden wir: Ob und warum muslimische Frauen ein Kopftuch tragen sollen oder müssen oder dürfen, das ist in erster Linie innerhalb der muslimischen Community zu diskutieren. Weil das Tragen des muslimischen Kopftuchs aber immer wieder sehr emotionsgeladen und oft auch angstbesetzt in der Gesellschaft thematisiert wird, hat das Präsidium der Evangelischen Frauen in Deutschland auf Wunsch und mit wichtigen Impulsen aus der Mitgliederversammlung 2017 einen Kommentar geschrieben: mit einem frauenspezifischen, christlichen Blick.

Reden hilft

Schon lange sind evangelische Frauen Teil des interreligiösen Dialogs. An vielen Orten ist er sogar von Frauen initiiert und gestartet worden – oft, um konkrete Probleme vor Ort zu lösen. Dabei haben wir eine große Kompetenz an interreligiösem, interkulturellem Verstehen und Dialog erworben. Und genau diese Kompetenz braucht es für friedliches Miteinander in unserer Gesellschaft.

Dabei gilt vor allem anderen: Am besten nicht über, sondern mit Menschen sprechen. Kennen Sie Frauen vor Ort, die ein Kopftuch tragen? Dann laden Sie sie doch einmal zu einem Treffen ein. Das können, müssen aber nicht unbedingt nur muslimische Frauen sein. Auch andere Frauen, viele Nonnen etwa, tragen eine Kopfbedeckung. Sammeln Sie vorab Fragen, die Sie interessieren. Aber achten Sie darauf, dass Sie keine Fragen stellen, die Sie selbst auch nicht gefragt werden wollen und nicht beantworten würden!

Im Vorschlag für die Gruppenarbeit stehen drei Aspekte des Kommentars der Evangelischen Frauen in Deutschland zum Kopftuchstreit im Mittelpunkt: Selbstbestimmung, Emanzipation und Religionsfreiheit.

Die Entscheidung über ihre Kleidung – einschließlich Kopftuch – gehört zum Selbstbestimmungsrecht jeder Frau.

Kleidervorschriften für Frauen waren schon immer und sind bis heute ein bevorzugtes und wirkmächtiges Instrument zur Durchsetzung und Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen innerhalb wie außerhalb religiöser Organisationen. „Das eine Patriarchat verhüllt die Frauen, zieht sie an; das andere, unser Patriarchat, zieht die Frauen aus.“ (Christina von Braun)
Für die Beurteilung solcher Vorschriften spielt es keine Rolle, was und wie viel Frauen ausziehen oder was und wie viel Frauen anziehen sollen. Zur grundgesetzlich garantierten freien Entfaltung der Persönlichkeit gehört das Recht jeder Frau, frei über ihre Kleidung zu entscheiden. Von der Umsetzung dieses Rechts in gesellschaftliche Realität sind wir weit entfernt. Es braucht weiterhin das entschiedene Eintreten von Feministinnen – mit oder ohne Kopftuch.

Ob muslimische Frauen ein Kopftuch tragen oder nicht, ist per se weder ein Indiz für Unterdrückung noch für Emanzipation.

Kleidungsstücke anzuziehen (Hosen, kurze Röcke…) oder auszuziehen (Korsett, BH und auch Kopftuch…) war für viele Frauen der 2. Frauenbewegung ein Akt und zugleich ein öffentliches Zeichen der Emanzipation und des Anspruchs auf Gleichberechtigung. Insofern verwundert es nicht, wenn Frauen in Deutschland vor diesem persönlichen beziehungsweise generationenübergreifenden Erfahrungshintergrund dem öffentlichen Tragen des muslimischen Kopftuchs mit ambivalenten Gefühlen begegnen.

Erzwungene – und öffentlich zelebrierte – Entschleierung muslimischer Frauen war noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein eine der Maßnahmen, mit denen westliche Kolonialherren ihre „kulturelle Überlegenheit“ über die „rückständigen“ muslimischen Gesellschaften der kolonisierten Länder demonstrierten. Insofern verwundert es nicht, wenn muslimische Frauen in Deutschland vor diesem generationenübergreifenden Erfahrungshintergrund in dem Ansinnen, kein Kopftuch (mehr) zu tragen, diese kolonialistischen Muster wiedererkennen und der – ausgesprochenen oder heimlichen – Erwartung, das Kopftuch abzusetzen, mit ambivalenten Gefühlen begegnen.

Tatsächlich aber sagt das Tragen eines Kopftuchs an sich nichts darüber aus, ob die Trägerin unterdrückt wird oder emanzipiert ist. Wer für Empowerment, Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen eintritt und arbeitet, sollte sich erinnern: Keine Frau ist jede Frau. Es galt und gilt zu akzeptieren und zu respektieren, dass es für jede Frau(enbewegung) unterschiedliche Wege zur Gleichberechtigung gibt.

Ein Kopftuch – oder andere religiöse Symbole wie Kreuz oder Kippa – zu tragen, ist Ausdruck des Rechts auf das Bekenntnis zu einer religiösen Identität im säkularen Staat.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert in Art. 4 die so genannte Religionsfreiheit, genauer: die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des weltanschaulichen Bekenntnisses als unverletzliches Grundrecht. Dazu gehört nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch das Recht der oder des einzelnen, sein oder ihr gesamtes Verhalten an den Lehren seines/ihres Glaubens auszurichten. Diese allgemeine Religionsfreiheit impliziert unter anderem das Recht zum Tragen eines Kopftuchs beziehungsweise anderer religiöser Symbole – unabhängig davon, ob die /der jeweils andere oder die Mehrheitsgesellschaft dies nachvollziehen kann.

Der Staat ist zur weltanschaulich-religiösen Neutralität verpflichtet. Dies bedeutet auch, dass er weder bestimmte Bekenntnisse privilegieren oder sich mit bestimmten Religionsgemeinschaften identifizieren noch Gläubige bestimmter Religionsgemeinschaften ausgrenzen darf. Die Zulassung des Kopftuchs in öffentlichen Schulen bedeutet laut Bundesverfassungsgericht keine Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben. Umgekehrt ist ein generelles Kopftuchverbot verfassungswidrig.

Wir halten diese Bestärkung der Religionsfreiheit im säkularen Staat für den richtigen Weg. Darum treten wir entschieden gegen Tendenzen in Richtung eines laizistischen Modells der vollständigen Trennung von Staat und Religion ein.

Drei von sechs Aspekten aus dem Kommentar der Evangelischen Frauen
in Deutschland „Zur gesellschaftlichen Diskussion um das muslimische Kopftuch“
Download vollständiger Kommentar unter www.evangelichefrauen-deutschland.de (Publikationen / Positionspapiere); für Abonnent*innen auf www.leicht-und-sinn.de als Materialdownload vorbereitet.

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit 90 min

vorbereiten     Wenn das Thema vorab vereinbart oder schriftlich dazu eingeladen wird, werden die Frauen gebeten, ein Foto mitzubringen, auf dem sie mit Kopftuch zu sehen sind; alternativ kann eine „Kopftuchgeschichte“ mitgebracht werden. Wenn das nicht möglich ist, bringt die Leiterin vier Kopftücher beziehungsweise Bilder von diesen mit: ein eigenes altes Kopftuch oder das der Mutter/Großmutter / ein Kopftuch, das gerade trendy ist / ein klassisches Hijab-Kopftuch / eine DiakonissenHaube oder den Schleier einer Nonne.

Einstieg

Jede zeigt ihr Foto und gibt einige Erläuterungen dazu oder erzählt ihre Kopftuchgeschichte. [ circa 15 Minuten ]

oder:    Je eines der Kopftücher (Bilder) liegt in einer von vier Ecken des Raumes. Die Gruppe teilt sich gleichmäßig auf die Ecken auf. – Die Leiterin beginnt: „Jedes Kopftuch erzählt eine Geschichte. Welche Geschichte ist es in Ihrer Ecke? Beginnen Sie Ihre Geschichte mit dem Satz: Dieses Kopftuch wurde getragen von einer Frau, die …“

Nach 15 Minuten kommen die Frauen zusammen, und jede Gruppe stellt ihre Geschichte vor.

Reflexion der Einstiegsrunde:    Was fällt auf? Welche Themen stehen hinter den Kopftuchfotos / Kopftuchgeschichten? Welche Emotionen waren im Raum? Welche schönen / schmerzhaften Erfahrungen waren da?

EVANGELISCHE FRAUEN ZUM MUSLIMISCHEN KOPFTUCH

Die Evangelischen Frauen in Deutschland haben einen Kommentar zur gesellschaftlichen Diskussion um das muslimische Kopftuch veröffentlicht. Sie meinen:
„Die Entscheidung über ihre Kleidung – einschließlich Kopftuch – gehört zum Selbstbestimmungsrecht jeder Frau.“
Die Leiterin verteilt Kopien des Textes und bittet eine der TN, ihn laut vorzulesen.

Impuls:    Wie verhält sich die Aussage „Das eine Patriarchat verhüllt die Frauen; das andere, unser Patriarchat, zieht die Frauen aus.“ zu unseren persönlichen Erfahrungen? / Die Leiterin achtet darauf, dass TN ihre Erfahrungen äußern können, ohne von anderen „korrigiert“ zu werden! [ circa 15 Minuten ]

„Ob muslimische Frauen ein Kopftuch tragen oder nicht, ist per se weder ein Indiz für Unterdrückung noch für Emanzipation.“

Wieder wird der Text laut vorgelesen – Austausch spontaner Gedanken zum Text ?[ circa 15 Minuten ]

Bilder sprechen    „What a crual maledominated culture“ („Was für eine grausame männerdominierte Kultur“) von Malcolm Evans verteilen – Zeit zum Anschauen und Verstehen geben!

Impuls:    Was ist die Aussage der Karikatur? Welche Meinung / Einstellung wird erkennbar? Wie beurteilen Sie die Aussage der Karikatur? [ circa 15 Minuten ]

Ein weiterer Aspekt des EFiD-Kommentars ist die Frage der Religionsfreiheit: „Ein Kopftuch – oder andere religiöse Symbole wie Kreuz oder Kippa – zu tragen, ist Ausdruck des Rechts auf das Bekenntnis zu einer religiösen Identität im säkularen Staat.“

Wieder liest eine den Text laut vor. Zunächst wird der Unterschied zwischen einem säkularen und einem laizistischen Staat geklärt: Im laizistischen Staat sind Staat und Kirchen / Religionen strikt getrennt. In einem säkularen Staat wie Deutschland gibt es eine weitgehende, aber keine völlige Trennung. So gibt es beispielsweise Religionsunterricht auch in öffentlichen Schulen, religiöse Feiertage, in manchen Bereichen erhalten die Kirchen staatliche Förderungen.

Impulse zur Diskussion:     Welche Relevanz hat Religionsfreiheit für uns? Wann sind wir im öffentlichen Raum als Christinnen erkennbar, sichtbar? Was erleben wir dann? Schätzen wir es wert, wenn Menschen anderer Religionen ihre Religion öffentlich zeigen? Oder erleben wir das als Bedrohung oder Kränkung – und wenn ja, warum? [ circa 20 Minuten ]

Abschluss

Die Debatte, was frau auf dem Kopf tragen darf oder nicht, wird oft sehr emotional und zuweilen auch angstgesteuert geführt. Wenn wir uns an eigene „Kopftucherfahrungen“ erinnern, sind auch wir emotional – und gleichzeitig haben wir die Möglichkeit, reflektierter damit umzugehen, dass Frauen und ihre Vorstellungen so vielfältig sind.

Vieles, was in der Debatte noch gesagt werden könnte, haben wir heute nicht besprochen. Vielleicht ist uns deutlich geworden, dass es auch um die große Frage geht, wie wir leben wollen. Wie wir gesellschaftlich gut zusammenleben wollen. Dabei wünsche ich mir, dass wir es so erleben, wie es auch im Kommentar der EFiD geschrieben ist: „Wir machen die Erfahrung, dass Frauen unterschiedlicher Religionen und Kulturen – insbesondere im Nahbereich des Zusammenlebens – konkrete Herausforderungen des Alltags im Sinne eines guten Lebens für alle erkennen und meistern. … Wir lernen – manchmal staunend und mit fruchtbarem Stutzen angesichts der Erkenntnis eigener Ambivalenzen und verinnerlichter Vorurteile – täglich neu, dass es keinen eindeutigen inneren Zusammenhang zwischen der Kleidung und dem Selbstbewusstsein, den Kompetenzen und dem Engagement einer Frau gibt.“

Susanne Sengstock ist ev. Theologin. Nach etlichen Jahren als Pastorin im Gemeindepfarramt und auf Kirchenkreisebene arbeitet sie seit 2012 als Referentin für Feministische Theologie und Spiritualität sowie als Stellvertretende Leiterin im Frauenwerk der Nordkirche. Sie ist Mitglied im Präsidium der Evangelischen Frauen in Deutschland.

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