Das gleichnamige Seminar „Revolution für Anfänger*innen“ im Bildungshaus Haus Ohrbeck sorgte schon vor der Programmveröffentlichung für Reaktionen im Kollegium: Von Erheiterung über Kopfschütteln bis hin zur Freude war alles dabei. Freude über den Titel kam vor allem von den Kolleg*innen, die selbst gerne Zustände in Frage stellen, Spaß an neuen Ansätzen und „frischem Wind“ im Seminarangebot haben. Eher unabsichtlich wurde das Seminar so intern zu einer kleinen Intervention: Die Kolleg*innen stellten sofort Überlegungen an, wo in ihrem Leben und im Arbeitsumfeld Veränderungsmöglichkeiten sind, „wo jetzt etwas passieren muss…“
„Ich will, dass (endlich) etwas passiert.“ – Mit diesem Gedanken begann schon so manche Revolution, im Großen wie im Kleinen. Wird dieser Gedanke immer häufiger gedacht, dann ist die Gelegenheit da, von einer belastenden Situation in einen Aufbruch und ins Tun zu kommen. „Ich will, dass (endlich) etwas passiert“ heißt: Die Veränderungen selbst in die Hand nehmen. Den Job kündigen? Veganer*in werden? Aus der Kirche austreten? Die langjährige Beziehung beenden? …
Die meisten dieser Entscheidungen stehen für die Entscheider*innen schon lange an. Oft wirken Veränderungen jedoch ZU groß, ZU existentiell, ZU angsteinflößend. Zu krass.
Gleiches gilt für gesamtgesellschaftliche Umbrüche: Kapitalismus und patriarchale Strukturen abschaffen? Neue Formen des Zusammenlebens ermöglichen? Menschlichere Zustände? Nachhaltige Lebensweise? – Das klingt utopisch. Zu schwer umsetzbar, kaum denk-bar. Zu krass.
Die feministische Philosophin und Autorin Eva von Redecker hat (gelingende) Revolutionen untersucht und festgestellt: Meist ist das Revolutionäre erst Ergebnis eines schrittweisen Prozesses. Sie sagt: Wenn eine (gesellschaftliche) Revolution gelingen soll, dann meist nicht mit einem Paukenschlag, sondern mit vorheriger Einübung alternativer Verhaltensweisen, Haltungen und Handlungen: „[…] wir brauchen keinen großen Knall, um von Hier in ein anderes Jetzt zu kommen. Denn so wie es ist, ist es nicht durchweg. Wir können selbst Ansatzpunkte suchen und schaffen, um von vielen Seiten und Orten zugleich ein anderes als das dekonstruktive Weltverständnis einzugehen.“1 Wiederholung von neuen Routinen und Handlungsmustern: „Wenn wir eine Revolution und nicht nur einen spektakulären Zusammenbruch sehen wollen, müssen wir aus den Zwischenräumen des Alten bereits das Neue schaffen.“2
Dieser Ansatz ist für Veränderungen und Revolutionen im Kleinen, im eigenen Leben beinahe tröstlich: Ich muss nicht mein komplettes Leben adhoc umkrempeln. Um eine belastende Situation zu verändern, beginne ich mit kleinen Schritten und sorge bedächtig für zukunftsfähige Verbesserungen. Gleiches gilt für Veränderung von Unternehmenskulturen: Ansätze des Diversity Managements beginnen mit einzelnen kurzfristig wirksamen Maßnahmen in bspw. Personalentscheidungen, langfristig braucht es aber kontinuierliche Anstrengungen zur Sensibilisierung und Überprüfung der eigenen Haltung. Die Steuerung von unterschiedlichen – kleinschrittigen – Aktivitäten auf allen Ebenen erweist sich als nachhaltig und effektiv, um Vielfalt im Unternehmen zu fördern und zu etablieren.
So werden diese Dinge weniger „gefährlich“ und „krass“. Die psychologische Ebene in Veränderungsprozessen ist nicht zu verachten: Wann beginnen Personen mit Veränderungen im Leben? Wann kommen wir individuell ins Tun? Was sind gute Bedingungen für gelingende Veränderungen? Menschen verändern Zustände in der Regel dann, wenn es für sie ungemütlich wird, aber nicht (mehr) allzu beängstigend. Wenn sie davon überzeugt sind, dass sie etwas verändern können. Wenn Menschen schon mal Dinge (erfolgreich) verändert haben.
Die meisten von uns bewegen sich jedoch nicht vollkommen frei und ohne Verantwortlichkeiten, ohne Abhängigkeiten durch die Welt. Wie ist das Umfeld? Wieviel Handlungsspielräume habe ich – als Berufstätige*r, als Elternteil, vielseitig engagiert, als Angelpunkt im Freund*innenkreis, chronisch erkrankt, als Person of Color, …? Wieviel Zeit zum Nachdenken habe ich überhaupt? Wieviel Zeit kann ich mir nehmen? Wieviel Energie bleibt mir im Alltag?
Für Revolution für Anfänger*innen und generell für die Begleitung von Veränderungsprozessen gilt daher, dass Ängste, Hürden, Bedenken und Zögern, die von einer Veränderung abhalten, an[1]erkannt werden. Und dass es Erholung von allen Veränderungsanstrengungen braucht! Dann geht es darum, die Selbstwirksamkeitsüberzeugung zu stärken und sich zu vergewissern „Ich kann das schaffen!“: Wo in der Vergangenheit habe ich erfolgreich Veränderungen bewältigt, angestoßen, überlebt, gestaltet, …? Welche Fähigkeiten habe ich eingesetzt oder sogar neu entwickelt? Viele von uns sind gar keine Revolutions-Anfänger*innen – wir kennen uns ganz gut aus mit Veränderungen! Und: Mit der Erkenntnis „Ich will, dass sich etwas verändert und ich will wissen, wie das geht“, ist der erste Schritt bereits getan.
Die Anmeldung zu so einem Seminar ist ein weiterer Schritt! Die (Um-)Organisation der eigenen Verbindlichkeiten, um drei Tage im Bildungshaus zu sein der nächste! Die Anreise ist geschafft! Nun heißt es: Raum haben, Zeit haben, „rumspinnen“, Gedanken laut aussprechen in einem Raum Gleichgesinnter, keinen „fertigen“ Plan haben, Fehlerfreundlichkeit austesten, Träumen dürfen, …
„Wilde Verbundenheit“3 nennt es Eva von Redecker, wenn Individuen zusammenkommen, um gemeinsam etwas zu schaffen und Revolutionen zu beginnen. Die Gruppe heißt schon: Ich bin nicht allein. Anderen geht es auch so. Andere haben es auch geschafft. Ich finde Kompliz*innen. Andere helfen mir über blinde Flecken hinweg und dadurch sehe ich Handlungsoptionen: Vielleicht helfen mir und meinem*meiner Partner*in getrennte Wohnungen, statt uns gleich zu trennen? Vielleicht koche ich ein- zweimal die Woche vegan, bevor ich meine komplette Ernährung umstelle? Sie verstehen: Aus kleinen, machbaren, konkreten Schritten setzen wir unser gestärktes Veränderungsanliegen durch!
Im Kapitalismus ist Selbstoptimierung ein nie endendes Hamsterrad, in dem viele gesellschaftliche Schieflagen individualisiert werden. Eine Falle bei dem ganzen „Jetzt muss aber was passieren“ und „Veränderung! Los! Los!“. Zu einer Revolution für Anfänger*innen gehört immer auch das „Schöner Scheitern“. Die Ausschreibung eines ähnlichen Seminars im Haus Ohrbeck trifft es: „Über Fehler oder gar Scheitern wird nicht viel gesprochen. Das ändern wir! … Und wenn man aus Fehlern angeblich lernt: Kann man Fehler machen üben? Wie fühlt es sich an, etwas zu wagen, ohne das Ergebnis zu kennen? Wie lebt es sich mit den eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten?“ Sich zu Veränderungen aufmachen heißt: Kräfte einteilen, eigene Grenzen wahren, eigene Unzulänglichkeiten liebevoll aushalten und zu allererst: Unterstützung suchen und Unterstützung bieten!
Insbesondere für Frauen ist das eine Frage der Gesundheit. Eva von Redecker bringt es auf den Punkt: „Wer schält die Möhren im Protestcamp?“4 Wer macht also die Reproduktionsarbeit in der Revolution? Auch in Veränderungsprozessen – individuell wie gesellschaftlich – liegt vielfach die materielle und psycho-soziale Versorgung, „Sorge“ im Sinne der Care-Arbeit, bei Frauen. Wer als Frau für die eigenen Interessen und Bedürfnisse einsteht und Veränderungen angeht, hat oft zusätzlich die (emotionalen) Erschütterungen im Umfeld aufzufangen, zu beschwichtigen oder strategisch zu umgehen. Auf dem Plan des nächsten Trainingslagers für feministische Revolutionen stehen dann: Empowerment-Push Ups, Bälle und Menschen verprellen, Solidarität stählen, Schlagfertigkeits-Punching, Ausdauer- und Konditions-Übungen bei Ermüdungserscheinungen, dicke Bretter bohren, Hürden überwinden, für weiße Frauen manchmal: Staffelstab-Übergabe und Platzverweis, Koordinationsübungen für Balanceakte. Auf keinen Fall: Kniebeugen
Befunde aus den USA zeigen, dass es entsprechend intersektionaler Diskriminierung insb. Women of Color sind, die einen sog. Activism Burnout erleben (Gorski 2019). Durch das Zusammenspiel von Rassismus, Sexismus und oft auch finanzieller Schlechterstellung sind die Stressoren und damit das Gesundheitsrisiko erhöht.
Zum Weiterlesen:
www.haus-ohrbeck.de
Eva von Redecker, Revolution für das Leben – Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt a.M., 2020.
Paul Gorski, Sarah Lopresti-Goodman, ‚Nobody’s paying me to cry‘: The causes of activist burnout in United States animal rights activists, in: Social Movement Studies, 3/2018.
Anmerkungen
1) von Redecker, S. 16f.
2) Ebd., S. 153.
3) Ebd., S. 136.
4) Podcast „Plan B“, 29.08.2019.
Für die Arbeit in der Gruppe
Zeit
ca. 40 Minuten
Wir wollen Ressourcen sammeln und bisherige Veränderungsprozesse aufzeigen. Hier empfiehlt sich eine klassische Timeline-Arbeit mit dem eigenen Lebenslauf – am besten schriftlich!
Hinweis für die Gruppenleitung: Zeit je nach Gruppengröße und Austauschbedarf einplanen.
Zeit
ca. 60 Minuten
In Einzelarbeit stellen sich die TN vor, sie stünden an einer Wegekreuzung, wo ein Wegweiser mit sechs Richtungsarmen steht. In Gedanken spielst du nun diese Richtungen für deine Veränderungswünsche durch. Wie geht es für dich weiter? Wie gehst DU weiter? Schreibe deine Gedanken dazu auf!
1) Der bekannte Weg: Ein Weg, den du bereits in einer Veränderungssituation gegangen bist und der sich als gut erwiesen hat: …
2) Der kühnste Weg: Bei diesem Weg hilft nur nervöses Kichern, weil er so vermessen und übermütig scheint und bisher keine Vorstellungen da sind, wie dieser Weg jemals realisiert werden soll: … 3) Der lockende Weg: Der Weg, der reizt, den du schon immer ausprobieren wolltest: …
4) Der vernünftige Weg: Zu diesem Weg würden Menschen raten, die dich kennen und deren Urteil dir wichtig ist: …
– Wann gab es Veränderungen im bisherigen Leben?
– Wann gab es bedeutsame Lebensübergänge?
– Welche positiven (!) Erkenntnisse kann ich daraus ziehen?
– Welche „Schätze“ kann ich aus meiner Biografie „heben“?
Im Anschluss folgt eine Aussprache im Plenum. Wichtig: Jede Person entscheidet selbst über das, was sie teilen möchte. Hinweis: Bei der erarbeiten Timeline handelt es sich um einen „Ist-Stand“, der morgen mglw. schon anders aussieht!
5) Der unbekannte Weg: Das ist ein Weg, an den du noch nie gedacht hast. Hol dir ggf. Ideen von anderen dazu!: …
6) Der Weg zurück: Das ist der Weg des Alltags, den du bisher gegangen bist, der dir vertraut ist und sich auch irgendwie bewährt hat: …
Welchen Weg möchtest du gehen? Welche nächsten Schritte sind dafür nötig? Wen kannst du als Wegbegleiter*in und/oder Unterstützer*in gewinnen? Wie fühlt sich das an? Findest du ein Bild oder Symbol dazu? Notiere dir auch das!
Im Anschluss an die Einzelarbeit treffen sich alle TN im Plenum zur Aussprache. Das Aussprechen der eigenen Wegeoptionen und Gedanken macht Ergebnisse verbindlicher (die TN teilen dabei nur, was sie aussprechen möchten). Die Gruppe ist häufig ein Resonanzraum: Durch die Äußerungen kommen neue Ideen; Ängste werden besser verstanden, zusätzlich erhalten die TN Anerkennung und Wertschätzung für ihre Ideen und Veränderungspläne.
Zum Abschluss geben sich die TN – passend zu den Wegweisern und entwickelten nächsten Schritte – gegenseitig gute Wünsche und Ermutigungen mit auf den Weg (gerne schriftlich zum Mitnehmen und Nachlesen).
Anmerkung
Mögliche Darstellung(Veränderungen PRIVAT-BERUFLICH) aus: Martina Nohl, Anna Egger: Micro-Inputs Veränderungscoaching, Bonn, 2016, S.74
Wegekreuzung, Vorlage zum Download verfügbar, nach: Ebd., S.189ff. Anerkennung und Wertschätzung für ihre Ideen und Veränderungspläne. Zum Abschluss geben sich die TN – passend zu den Wegweisern und entwickelten nächsten Schritte – gegenseitig gute Wünsche und Ermutigungen mit auf den Weg (gerne schriftlich zum Mitnehmen und Nachlesen)
Regina Wahl, Sozialarbeiterin u. Systemischer Coach (ECA/IHK), ist Bildungsreferentin im Bildungshaus Haus Ohrbeck und dort zuständig für das QM. Wenn sie nicht gerade zur Revolution aufruft, gibt sie Seminare für Frauen und Familien zu den Themenfeldern Umgang mit Krisensituationen, Gestaltung von Veränderungsprozessen und Abbau von Diskriminierung/Förderung von Vielfalt.
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