Ausgabe 2 / 2018 Bibelarbeit von Rainer Kessler

Suche Frieden und gehe ihm nach!

Von Rainer Kessler

Wie ein Aufruf der Friedensbewegung klingt der Psalmvers, der als Losung für das Jahr 2019 ausgewählt wurde. Wer wollte sich ihm verschließen? Altes und Neues Testament sind voller Visionen des Friedens. Die Völker werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und den Krieg nicht mehr lernen, heißt es bei Jesaja und Micha. Bei der Geburt Jesu verkündigen die Engel „Friede auf Erden“, und Jesus selbst preist die Friedensstifter*innen selig. Ist es da nicht selbstverständlich, dass Christinnen und Christen Frieden suchen und ihm nachjagen? In den großen Friedensbewegungennach dem 2. Weltkrieg – ob in der Anti-Atomwaffenbewegung der 1950er und 60er Jahre oder der Bewegung gegen die Nachrüstung in den 1980er Jahren – war die christliche Beteiligung immer sehr stark.

Und doch greift es zu kurz, den Psalmtext nur als moralischen Appell zu verstehen. Der Friedensbewegung wieder etwas Leben einzuhauchen, wäre – angesichts der schrecklichen Kriege in Syrien und im Jemen, um nur diese zwei zu nennen – gewiss nicht falsch. Aber worauf das Psalmwort abzielt, lässt sich nur verstehen, wenn man es im Zusammenhang des ganzen Psalms verortet.

Psalm 34

In diesem Psalm spricht ein Einzelner oder eine Einzelne. Die Überschrift setzt diesen Menschen mit David gleich. Dieser Mensch hat die Erfahrung gemacht, dass Gott ihm in der Not beistand: „Als ich die Ewige suchte, da antwortete sie mir, aus meiner ganzen Furcht zog sie mich heraus“, übersetzt die Bibel in gerechter Sprache (V. 5). Worin die Not bestand, erfahren wir nicht. Der Psalm ist so offen formuliert, dass jeder Mensch sich mit seiner eigenen Notlage und seinen eigenen Ängsten in ihm wiederfinden kann.

Die Macht der Gottheit preist die Beterin des Psalms im ganzen ersten Teil (VV. 2-11). Wer eine solche Erfahrung gemacht hat, will sie nicht für sich behalten: „Bewundert die Ewige mit mir, lasst uns zusammen ihren Namen erheben.“ (V. 4) Und schnell schließt die Beterin von ihrer eigenen Erfahrung auf die Erfahrung, die alle Menschen mit Gott machen können: „Fühlt und seht, wie gütig die Ewige ist. Glücklich der Mann, die Frau, die sich bei ihr bergen.“ (V. 9)

War sie bisher diejenige, die Gott lobte und andere dazu mitreißen wollte, so schlüpft die Beterin mit V. 12 in die Rolle der Lehrerin. Ich stelle sie mir vor als die Mutter, auf deren Weisung zu hören die Sprüche fordern; es könnte aber natürlich auch der Vater oder ein Weisheitslehrer sein (Spr 1,8; 6,20). „Kommt, ihr Kinder“, sagt die Mutter oder der Vater oder der Lehrer, „hört auf mich! Die Furcht der Ewigen will ich euch lehren.“ (Ps 34,12) Vor der Ermahnung selbst steht eine rhetorische Frage, die ich so wiedergebe: „Wer ist es, der Leben begehrt, der die Tage liebt, um Glück zu sehen?“ (V. 13) Die Antwort ist: Jeder will das, jede will Leben in Fülle haben und Glück sehen.

Ohne diesen Satz gerieten die folgenden Mahnungen in ein schiefes Licht. Das Alte Testament enthält bekanntlich viele Gebote und Verbote, Ermahnungen und andlungsanweisungen. Doch das ist kein „Gesetz“, das Menschen knebeln will. Die Gebote vom Sinai werden nicht erlassen, damit die Menschen blind den Willen Gottes erfüllen, sondern um ihnen Leben zu ermöglichen. Zum Abschluss der Verkündigung des Gesetzes sagt Mose: „Sieh, ich habe dir heute das Leben und das Glück vorgelegt, den Tod und das Unglück. … Wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen!“ (Dtn 30,15.19) Leben und Glück sind auch das vorrangige Ziel der Ermahnungen, die Eltern und Lehrer der Jugend mit auf den Weg geben und in deren Tradition unser Psalm steht.

Wie können Menschen Leben und Glück gewinnen? Das ist die große Frage der antiken Philosophie. Es ist eine Frage, die uns bis heute bewegt. Die Antwort der biblischen Schriftsteller*innen ist ziemlich einheitlich die, dass die Furcht Gottes der Anfang aller Erkenntnis und allen Glücks ist. So beginnt ja auch unsere Lehrerin in V. 12: „Kommt, ihr Kinder, hört auf mich! Die Furcht der Ewigen will ich euch lehren.“ Dabei hat Furcht nichts mit Angst zu tun, sondern mit Ehrfurcht und Respekt. Wir können Leben und Glück nur gewinnen, wenn wir den Gott achten und respektieren, der uns das Leben geschenkt hat, der aber auch dessen Grenze ist.

Die Mahnungen der Verse 14-15

Leben und Glück kann ein Mensch nicht allein erlangen und schon gar nicht gegen andere oder auf deren Kosten. Das Glück des Einzelnen ist nur möglich in der Gemeinschaft. Daraus erklären sich die Mahnungen, die die Weisheitslehrerin nun den „Kindern“ mit auf den Weg gibt.

„Bewahre deine Zunge vor Bösem, deine Lippen vor falschen Worten“, so heißt die erste Mahnung (V. 14). Angeredet ist eine einzelne Person. Aber diese Einzelne, dieser Einzelne ist in die Gemeinschaft eingebunden, und das wichtigste Mittel unserer Vergemeinschaftung ist die Sprache. Die Verrohung der Sprache, die sich seit einiger Zeit von den Sozialen Medien (die in Wahrheit oft ziemlich a-sozial sind) bis hin zu Spitzenpolitiker*innen beobachten lässt, zerstört die Gemeinschaft und vernichtet Leben. Solche Sprache führt ins Unglück.

„Weiche dem Bösen aus und handle gut“, so geht es weiter (V. 15a). Das ist sehr allgemein formuliert. Und sicher lässt sich im Einzelfall streiten, was in einer bestimmten Situation böse oder gut ist. Aber generell können wir uns nicht damit herausreden, wir wüssten gar nicht, was gut und böse ist. Der Prophet Micha sagt: „Gott hat dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Adonaj von dir fordert: nichts andres als Recht tun und Güte lieben und besonnen mitgehen mit deinem Gott.“ (Mi 6,8)

Und dann kommt der Text unserer Jahreslosung: „Suche Frieden und gehe ihm nach!“ (Ps 34,15b) Wieder ist ein einzelner Mensch angeredet. Jede und jeder Einzelne soll, vom engsten Umkreis ausgehend, Frieden suchen – auch gemeinsam und nach Kräften bis in die Weltpolitik hinein. „Jagt dem Frieden nach mit jedermann“, so nimmt der neutestamentliche Hebräerbrief die Mahnung des Psalms auf (Hebr 12,14). Das ist kein Handlungszwang, der uns auferlegt wird, sondern die Bedingung dafür, dass wir Leben und Glück erlangen können.

Leben und Glück in Scheitern und Verzweiflung

Die Beterin des Psalms hat im ersten Teil, ausgehend von ihrer eigenen Rettungserfahrung, Gott überschwänglich gepriesen. Dann hat sie als Lehrerin Mahnungen geäußert, die Glück und Leben bringen sollen. Liest man den Psalm oberflächlich, entsteht leicht der Eindruck, hier werde ein pausbäckiger Optimismus verbreitet: Verhalte dich gut, dann geht es dir gut. Wir wissen aus schmerzlichen Erfahrungen, dass diese Rechnung meist nicht aufgeht. Auch der Dichter dieses Psalms wusste das.

Nach den Mahnungen ändert sich der Ton merklich. Jetzt ist die Rede vom „Hilfeschrei“ der Gerechten (V. 16). Offenbar werden sie bedrängt von denen, „die Böses tun“ (V. 17). Der nächste Vers spricht von Menschen, „deren Herz gebrochen ist, deren Lebensmut zerschlagen ist“ (V. 19). Sie werden nicht von außen bedrängt, sie scheitern und verzweifeln an sich selbst. Und wieder ist vom „Unglück der Gerechten“ die Rede (V. 20), die von denen drangsaliert werden, „die Böses tun.“ (V. 22) Es ist keine heile Welt, in die hinein unser Psalm gesprochen ist. Es ist unsere Welt mit ihren äußeren Widrigkeiten und unserem eigenen, inneren Scheitern. Das Leben und das Glück, wovon der Psalm spricht, ist Leben und Glück mitten in Scheitern und Verzweiflung.

Hans-Joachim Kraus schreibt in seiner Auslegung: „Das ‚Glück‘, von dem der Psalmist spricht, liegt in einer tieferen Schicht verborgen.“ Den äußerlich Bedrängten und innerlich Gebrochenen wird zwar letztlich versprochen, dass sie „aus all ihren Bedrängnissen“ gerettet werden (V. 18). Das muss aber nicht heißen, dass rein äußerlich „alles gut“ wird. Trotzdem ist Gott nahe, wenn wir uns an ihn wenden. (V. 19) „Die Augen der Ewigen ruhen auf den Gerechten, ihre Ohren hören auf ihren Hilfeschrei.“ (V. 16) Es ist diese Nähe Gottes, die uns auch in bedrängenden und verzweifelten Lagen das Glück bringen kann, das „in einer tieferen Schicht verborgen“ liegt. Erfahren können wir diese Nähe Gottes im Gebet und im Zuspruch von Menschen, die uns wohl wollen.

Der letzte Vers des Psalms heißt in der Lutherbibel „Der HERR erlöst das Leben seiner Knechte.“ (V. 23)
Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt: „Die Ewige setzt die Lebenskraft derer frei, die ihr dienen.“ Um diese Lebenskraft geht es dem Psalm. Sie erwächst aus dem inneren Frieden, den wir erlangen, wenn wir Gott nahe wissen. Und sie gibt uns Kraft, uns dann auch für den Frieden in der Welt einzusetzen: „Suche Frieden und gehe ihm nach!“

Verwendete Literatur:
Frank-Lothar Hossfeld / Erich Zenger: Die Psalmen I. Psalm 1–50 (NEB), Würzburg 1993.
Hans-Joachim Kraus: Psalmen. 1. Teilband. Psalmen 1–59 (BK XV/1),
Neukirchen-Vluyn, 6. Aufl. 1989.

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit 90 min

Lied

Gib uns Frieden jeden Tag EG 425

Einstieg
Auf einem großen Papierbogen steht mittig die Jahreslosung Suche Frieden und gehe ihm nach!
Ps 34,15 Legen Sie den Bogen auf einen größeren Tisch, dazu einige Filzstifte. Laden Sie die TN ein, in Stille Assoziationen, Fragen, Gedanken… zur Jahreslosung auf das Papier zu chreiben (oder auch zu zeichnen). Die aufgeschriebenen Äußerungen können wie in einem mündlichen Gespräch fortgeführt oder kommentiert werden. Beschließen Sie das Schreibgespräch mit einem kurzen Austausch von Eindrücken zu dem entstandenen Bild.

Einführung in den Psalm

„Suchet Frieden“ – mit anderen. Dazu fordert unser Vers 15 auf. Aber wenn wir diesen Vers im Zusammenhang des gesamten Psalms lesen, dann wird deutlich: „Frieden suchen“ meint auch das Streben nach Leben, Glück und innerem Frieden.

Lesen Sie das Kapitel „Die Mahnungen der Verse 14 und 15″ aus der Bibelarbeit vor.

Gruppenarbeit

Die beiden folgenden Gruppenarbeiten können alternativ oder parallel erfolgen. Die Gespräche bleiben in der Gruppe – es folgen keine Berichte im Plenum!

– Leitfragen für Gruppen, deren Teilnehmer*innen sich über Erfahrungen in der politischen Friedensarbeit austauschen möchten:

Erste Runde: Was hat mich dazu gebracht, mich zu engagieren? Was bestärkt mich darin durchzuhalten? Wie gehe ich mit Enttäuschungen oder Frustration um? Bin ich manchmal müde? Habe ich resigniert?

Zweite Runde: Wir wirkt die Aufforderung der Jahreslosung auf mich? Bestärkend? Oder macht sie mir eher ein schlechtes Gewissen?

– Leitfragen für Gruppen, deren Teilnehmer*innen sich über Erfahrungen mit Unfrieden im sozialen Nahbereich (Familie, Arbeitsplatz, Nachbarschaft, Kirchengemeinde) austauschen möchten:

Machen Sie sich zunächst klar: Es geht bei diesem Austausch nicht darum, persönliche Streitereien auszubreiten. Und jede*r TN bestimmt selbst, ob und wie weitgehend sie/er ganz persönliche Erfahrungen äußern möchte!

Erste Runde: Wie geht es mir damit, wenn ich Unfrieden in meinem persönlichen Umfeld erlebe? Finde ich das „schlimm“ oder eher „normal“? Macht es mich traurig, ratlos, wütend…? Werde ich eher aktiv, um den Frieden wieder herzustellen? Oder halte ich mich lieber raus, ziehe mich zurück? Was hindert mich daran, mich in einer solchen Situation auf „Friedenssuche“ zu begeben – was bestärkt mich darin?

Zweite Runde: Wie wirkt die Aufforderung der ?Jahreslosung auf mich? Bestärkend? Oder macht sie mir Druck?

Austausch im Plenum

Wir haben uns in den Gruppen intensiv mit unseren persönlichen Erfahrungen im Umgang mit Unfrieden und unserem Eintreten für Frieden ausgetauscht. Fragen wir uns jetzt noch einmal nach dem Zusammenhang von innerem und äußerem Frieden. Brauche ich inneren Frieden, um mich für Frieden mit und unter anderen einsetzen zu können? Oder verschafft mir umgekehrt mein Engagement für Frieden mit und unter anderen meinen inneren Frieden? Welche Erfahrungen, Fragen oder Gedanken dazu möchte ich mit Euch/Ihnen teilen?

Abschluss

Der letzte Vers von Psalm 34 heißt in der Lutherbibel: „Der HERR erlöst das Leben seiner Knechte.“ Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt: „Die Ewige setzt die Lebenskraft derer frei, die ihr dienen.“ Um diese Lebenskraft geht es dem Psalm. Sie erwächst ?aus dem inneren Frieden, den wir erlangen, wenn wir Gott nahe wissen. Und sie gibt uns Kraft, uns dann auch für den Frieden in der Welt einzusetzen: „Suche Frieden und gehe ihm nach!“

Lied

Verleih uns Frieden gnädiglich  EG 421

Prof. Dr. Rainer Kessler hat nach dem Studium der Ev. Theologie und Promotion als Pfarrer sowie als Assistent an der Kirchlichen Hochschule Bethel in Bielefeld gearbeitet. Von 1993 bis 2010 war er Professor für Altes Testament in Marburg. Seitdem befindet er sich im Ruhestand.

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