„Habt Mitleid, wie auch Gott mit euch leidet.“ Mit der Jahreslosung richte ich meinen Blick auf die Hilflosesten der Hilflosen: auf tote Menschen. Denn schutzbedürftiger als nach dem Tod kann ein Mensch nicht sein. Selbst ein zu früh geborenes Baby – eigentlich der Inbegriff von Schutzbedürftigkeit – kann sich äußern. Es kann schreien. Kann sich bewegen. Ein gestorbener Mensch ist von all dem abgeschnitten. Nichts geht mehr aus eigener Kraft. Was bedeutet Mitleid mit diesen Menschen?
Die Würde des Menschen, die der erste Artikel unseres Grundgesetzes für unantastbar erklärt, gilt über den Tod hinaus. Darum haben tote Menschen ein Recht auf Bestattung. Die meisten Menschen haben Angehörige, die dafür sorgen. Bei Menschen ohne Angehörige tritt hier der Staat ein: Das Ordnungsamt beauftragt ein Bestattungsinstitut damit, den Leichnam zu verbrennen und die Urne anonym zu bestatten, und zwar so kostengünstig wie möglich. Das kann in Usedom sein oder in der Pfalz, je nachdem, wo es am billigsten ist. Nur die Akten im Ordnungsamt geben Auskunft darüber, wo diese Menschen bestattet sind. Es gibt kein Schild, keinen Hinweis, nichts. Als habe es diese Frau, diesen Mann, dieses Kind nie gegeben.
Gott sei Dank gibt es Menschen, die gegen die übliche Form der sogenannten Sozialbestattung ein Veto einlegen. Menschen, wie die der Friedhofsgruppe Minden. Die Keimzelle der Friedhofsgruppe ist eine Suppenküche. Deren Gäste hatten sich gewundert, warum Martha und Hans nicht mehr zum Essen kamen, und erfuhren, dass sie gestorben und irgendwo anonym bestattet worden waren. Es empörte sie, dass sie nicht Abschied hatten nehmen können und dass niemand ihr Grab kennt. Sie, die Armen, gründeten gemeinsam mit Sozialarbeiter*innen die Friedhofsgruppe Minden. Seitdem kümmern sie sich zusammen mit weiteren Ehrenamtlichen um Traueranzeigen. Sie suchen nach Angehörigen und organisieren in Kooperation mit der Stadt Minden und mit Pfarrer*innen ein Begräbnis, an dem sie auch teilnehmen. Einmal im Monat treffen sie sich am „Grabfeld der Erinnerungen“, jäten Unkraut, pflanzen Blumen und pflegen die Gräber. So ehren sie die Menschen, die hier gegraben sind.
„Unbedacht Verstorbene – Jeder hinterlässt eine Spur“: Unter diesem Titel organisieren Bürger*innen aus Bielefeld Trauerfeiern für Menschen, für die niemand da war, um für eine würdige Bestattung zu sorgen. Gratis-Anzeigen in der Lokalpresse laden die Bevölkerung zur Teilnahme ein. Die Namen von etwa 120 bis 140 Menschen pro Jahr werden verlesen und Kerzen entzündet. Nach der Trauerfeier in der Kapelle gehen alle gemeinsam zum Grabfeld.
In Essen feiern christliche Kirchen und die Kommune ökumenische Gedenkgottesdienste für die „Unbedachten“ dieser Stadt. In Lüneburg stellt die Stadt großes Areal auf dem Waldfriedhof zur Verfügung. Auf Stelen stehen die Namen der Verstorbenen. Die ökumenische Tobiasgemeinschaft hat die Verantwortung dafür übernommen, dass hier vierteljährlich Trauerfeiern stattfinden. Es gibt bundesweit zahlreiche weitere Initiativen – aber leider nicht genug. Ob ein verarmter Mensch ohne Angehörige einen würdevollen Abschied bekommt, hängt davon ab, ob sich an seinem Wohnort Menschen dafür engagieren. Sonst bleibt nur die anonyme Bestattung durch das Sozialamt.
Was sagt eigentlich die Bibel dazu, wie mit gestorbenen Menschen umzugehen ist? Das Alte Testament antwortet eindeutig mit der Vorschrift, dass jeder tote Mensch ein Recht auf Bestattung hat:
Wenn bei einem Menschen eine Sünde geschieht, auf die das Todesurteil steht, und er/sie wird hingerichtet und du hängst ihn/sie an ein Holz, dann darf deren Leiche nicht über Nacht an dem Holz bleiben. Du sollst sie unbedingt noch am selben Tag begraben. Denn Aufgehängte sind eine Entwürdigung der Gottheit. So sollst du dein Land nicht unrein machen, das JHWH, deine Gottheit, dir als Erbteil gibt. Dtn 21,22 Begründet wird das Recht auf Bestattung – und die Pflicht zum Bestatten – also mit höchster Autorität, nämlich mit der Würde Gottes. Wenn ein Mensch nicht bestattet, sondern Tierfraß überlassen wird, dann schädigt das, so die Bibel, Gott selbst. Es macht Gott leicht, nimmt Gott Würde und Gewicht. Denn der Mensch ist und bleibt Ebenbild Gottes. Darum steht selbst Verbrecherinnen und Verbrechern, die zum Tode verurteilt sind, diese Würde über den Tod hinaus zu. Sie repräsentieren bis in ihre Körperlichkeit hinein Gott selbst.1 Welch eine versöhnliche Vorschrift! Mit dem Tod endet die Verantwortung des Individuums. Menschen bleiben zeitlebens verantwortlich für ihre Taten und Untaten. Strafe soll sein, und in antikem Denken konnte das auch die Todesstrafe sein. Wenn ein Mensch aber tot ist, endet der strafende Zugriff auf diesen Menschen. Sein Leichnam ist genauso zu schützen wie der jedes anderen Menschen: durch ein würdiges Begräbnis.
Die erwähnte Tobiasgemeinschaft bezieht sich auf das Buch Tobit. Hier spielt das Verhalten gegenüber Toten eine bedeutsame Rolle – Tote zu begraben ist eine Tat der Gerechtigkeit. Tobit lebt mit seiner Familie im Ausland. Seine Treue zur Tora zeichnet sich besonders dadurch aus, dass er Tote ohne Ansehen der Person bestattet. Das ist in dem totalitären Staat, in dem er lebt, brandgefährlich. Tobit wird denunziert und muss fliehen, sein Besitz wird konfisziert.2 Tote „zur Strafe“ für ihre vermeintlichen oder tatsächlichen Vergehen – und zur Abschreckung der Lebenden – nicht in würdiger Form zu bestatten, sondern auf dem „Schandacker“ oder in den letzten Ecken kirchlicher Friedhöfe unauffällig unter die Erde zu bringen, gehörte bis vor nicht allzu langer Zeit zur selbstverständlichen Praxis auch der christlichen Kirchen in Europa. Und es gehört bis heute zu den grausamen – und angehörige Überlebende nachhaltig traumatisierenden – Begleiterscheinungen krisenhafter Zeiten und kriegerischer Auseinandersetzungen. Kürzlich erst, 25 Jahre nach dem Massaker von Srebrenica, wurden die sterblichen Überreste Ermordeter aus ihren Massengräbern gehoben und auf einem Friedhof bestattet. Und wer hätte nach diesem Coronasommer nicht noch die furchtbaren Medienbilder nicht nur aus Brasilien im Kopf, Bilder von verzweifelten Angehörigen auf der Suche nach ihren Verstorbenen oder während eiliger Bestattungen, die nichts weniger als würdevoll durchgeführt wurden!
Im Judentum gehört die Bestattung Toter ohne Ansehen der Person zu den unverzichtbaren Taten der Gerechtigkeit. Während im Römischen Reich besonders arme Menschen oft unbestattet blieben, waren jüdische Menschen, darunter die Angehörigen der ersten christlichen Gemeinschaften, geradezu dafür verrufen, dass sie sich um Tote kümmerten, denen sich sonst niemand zuwandte. Sie bestatteten sogar vom Meer angespülte Leichname. Der christliche Schriftsteller Lactantius, der zu den Kirchenvätern gezählt wird, begründet diese Praxis zu Beginn des 4. Jahrhunderts so: „Wir werden es nicht dulden, dass das Bild und Geschöpf Gottes den wilden Tieren und Vögeln als Beute hingeworfen wird, … und auch an einem unbekannten Menschen das Amt seiner Verwandten erfüllen, an deren Stelle, wenn sie fehlen, die Humanität tritt.“3
Auch in der kirchlichen Praxis haben Beerdigungen einen großen Stellenwert. Fraglich ist der Grenzbereich: Wer empfängt solche Zuwendung nicht? Organisationen wie die Friedhofsgruppe Minden engagieren sich für Menschen, die auf eine „Bestattung von Amts wegen“, auch „Ersatzbestattung“ oder „Notbestattung“ genannt, angewiesen sind. Deutschlandweit entstehen Initiativen, die Gottesdienste für „Unbedachte“ – so heißt es im Ruhrgebiet – anbieten. Oft stiftet die Ortspresse kostenlose Todesanzeigen. Städte stellen Urnenfelder bereit, die dann von den Initiativen gepflegt werden. Spenden ermöglichen Namensschilder an Stelen. All dies geschieht ehrenamtlich und diesseits der offiziellen Verantwortlichkeit der Kirchen und des Staates. Aber auch, wenn das vielfältige ehrenamtliche Engagement hier gar nicht hoch genug geschätzt werden kann: Allein darauf zu setzen, dass Ehrenamtliche sich schon kümmern werden, ist nicht genug.
„In der vergangenen Woche ist Frau Irene Müller verstorben. Sie wurde 83 Jahre alt. Am kommenden Mittwoch um 15 Uhr tragen wir sie wir sie von der Kirche aus zu Grabe.“
Erinnern Sie sich an frühere – oder auch bis heute praktizierte – Formen und Elemente kirchlicher Bestattungen, die für Sie etwas Tröstliches hatten? Die Ihnen gut tun oder gut getan haben?
Teilen Sie Ihre Erinnerungen kurz, in zwei bis drei Sätzen miteinander. Beachten Sie dabei bitte: Es geht hier nicht um richtig oder falsch. Es kann sehr unterschiedlich sein, was Menschen bei einer Bestattung als angemessen und tröstlich empfinden. Lassen Sie darum bitte alles, was gesagt wird, unkommentiert und ohne Diskussion nebeneinander stehen.
Verstorbene, die keine Angehörigen haben, die sich um ihre Bestattung kümmern oder kümmern können, sind auf eine „Bestattung von Amts wegen“, auch „Ersatzbestattung“ oder „Notbestattung“ genannt, angewiesen. In dem Falle beauftragt das Ordnungsamt ein Bestattungsinstitut damit, den Leichnam zu verbrennen und die Urne anonym zu bestatten, und zwar so kostengünstig wie möglich. Das kann in Usedom sein oder in der Pfalz, je nachdem, wo es am billigsten ist. Nur die Akten im Ordnungsamt geben noch Auskunft darüber, wo diese Menschen bestattet sind.
Haben Sie Erfahrungen mit Sozialbestattungen gemacht oder davon gehört oder gelesen?
Tauschen Sie sich aus: Welche spontanen Gefühle lösen die Informationen über die Praxis der „Bestattung von Amts wegen“ bei Ihnen aus? Welcher Gedanke kommt Ihnen dazu als erster in den Sinn?
Deutschlandweit entstehen seit einigen Jahren ehrenamtliche Initiativen, die Gottesdienste für „Unbedachte“ – so heißt es im Ruhrgebiet – feiern. Oft stiftet die Ortspresse kostenlose Todesanzeigen. Städte stellen Urnenfelder bereit, die dann von den Initiativen gepflegt werden. Spenden ermöglichen Namensschilder an Stelen.
Hinweis für Leiter*innen: Sie können hier die anderen Beispiele aus den ersten Abschnitten des Artikels ergänzen.
Wissen Sie von solchen Initiativen im eigenen Umfeld oder vom Hörensagen?
Tauschen Sie sich aus: Wie ist die Situation in Ihrem Umfeld? Ist gut und ausreichend dafür gesorgt, dass alle Verstorbenen ohne Ansehen der Person würdevoll bestattet werden? Oder sehen Sie Handlungsbedarf?
Überlegen Sie gemeinsam: Welche Möglichkeiten hätten Sie, als einzelne oder als Gruppe, etwas zu tun?
Sollte es nicht zu den genuinen Aufgaben der Gemeinden gehören…
[letzter Absatz des Artikels]
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