Rom*nja und Sinti*ze bilden mit 12 Millionen Angehörigen Europas größte „Minderheit“. Dennoch oder darum entziehen sich die Communities der Sinti*ze, Rom*nja und die, die unter dem Doppelbegriff subsumiert werden, einer übergreifenden Beschreibung als der „Minderheit der Sinti und Roma“. Vielmehr geht es um viele, sehr unterschiedliche, häufig minorisierte Communities, die die Dominanzgesellschaft unter der rassistischen Zuschreibung Zigeuner1 als Gruppe erst konstruierte.
Zu den in Deutschland lebenden Communities der Sinti*ze und Rom*nja gehören die (deutschen) Sinti*ze, die seit ca. 600 Jahren in D beheimatet sind und als autochthone Minderheit Schutz und Förderung erfahren. In den 1960ern kamen Rom*nja als sog. Gastarbeiter*innen vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien hinzu. Viele von ihnen und ihren Familien besitzen heute die deutsche Staatsbürgerschaft. Andere ersuchten als Geflüchtete der Jugoslawienkriege seit Beginn der 90er um Asyl. Manche leben bis heute mit unsicherem Aufenthaltsstatus, was Auswirkungen auf das Bleiberecht der nachfolgenden Generation(en) hat. Nach der Einstufung der Westbalkanstaaten als „sicher“ wurden viele der von dort Geflüchteten abgeschoben. Dies trifft auch in Deutschland aufgewachsene und geborene Kinder. Weitere Communities sind im Zuge der EU-Freizügigkeit hergezogen. Viele weitere kamen weltweit aus individuellen Gründen nach Deutschland. Wie in anderen Minoritätsgruppen oder solchen, die nicht als „Minderheiten“ markiert sind, unterscheiden sich die einzelnen Communities der Rom*nja und Sinti*ze in vielfacher Hinsicht. Sie sprechen verschiedene Sprachen, gehören unterschiedlichen Religionen oder gar keiner an, pflegen unterschiedliche Traditionen, leben in verschiedenen sozialen Milieus, besitzen unterschiedliche sexuelle Identitäten. Als Gemeinsamkeit wird häufig die Sprache Romanes angeführt. Romanes wird in unterschiedlichen nationalen Kontexten in unterschiedlichen Varianten gesprochen, stets stark von der umgebenden Dominanzgesellschaft geprägt. Zudem sprechen nicht alle Rom*nja und Sinti*ze Romanes. In Deutschland sind etwa 85% u.a. romanessprachig.2
Er dient denen als Selbstvergewisserung, die antiziganistischen Rassismus im dominanz-gesellschaftlichen Konsens bewusst und unbewusst praktizieren.
Zilli Schmidt war getrennt von ihrer Familie inhaftiert ehe die SS sie und später ihre gesamte Familie 1943 ins „Zigeunerfamilienlager“ nach Auschwitz-Birkenau deportierte. Über viele Monate gelang es Zilli durch Diebstähle und Kontakte zu Funktionshäftlingen ihre Liebsten zu retten. Doch am 2. August 1944 wurden ihre vierjährige Tochter, die Eltern und die Schwester, deren Kinder und weitere Verwandte ermordet. Zeitgleich schickte die SS Zilli gegen ihren Willen zur Zwangsarbeit nach Ravensbrück. Ihr gelang die Flucht.
Nach Kriegsende fand sie nur ihre beiden Brüder wieder. Erst vor wenigen Jahren begann sie zu Fremden über ihre bewegte Geschichte zu sprechen: Im Alter von 95 Jahren erschienen mit „Gott hat mit mir etwas vorgehabt! Erinnerungen einer deutschen Sinteza“ ihre Lebenserinnerungen.3
Wer Zilli Schmidt zum ersten Mal begegnet, ist zunächst irritiert, diese winzige Person – und dazu die tiefe, rauchige Stimme? Stark und fest, trotz der fast 100 Jahre, die sie mittlerweile auf der Welt ist. Zilli Schmidt ist stets sehr chic: elegante Kleider, Kette, Anhänger, Ohrringe, alles aufeinander abgestimmt, die kurzen, eisengrauen Haare sorgfältig frisiert. Lippenstift zu besonderen Gelegenheiten. In regelmäßigen Abständen raucht sie schmale Zigaretten. Ihre Augen funkeln lebenslustig, sie lacht viel und herzlich. Wer sie ansieht, zuhört wie sie spricht, so überaus offen und großzügig mit ihrem Vertrauen, so witzig, ist versucht zu vergessen, was für ein Leben hinter dieser Frau liegt. Aber dann fällt der Blick auf eine Tätowierung am Arm: Z-1959, die Nummer Auschwitz.. Zilli Schmidt ist eine der Letzten unter den Sinti*ze, die die nationalsozialistische Gewalt als Erwachsene überlebten. So einzigartig jedes Schicksal, so auch jedes Weiterleben, jeder Umgang mit dem Verlust, dem „Übriggebliebensein“, der Erfahrung von Unmenschlichkeit. Zilli Schmidt zeigt keine Bitterkeit oder Resignation.
Die Kraft schöpfe sie aus ihrem Glauben, sagt sie. Gott habe sie über die Abgründe ihres Lebens getragen. Doch wenn sie nicht schlafen kann ist sie wieder in Auschwitz, geht umher, nimmt Tabletten und raucht. Dann kommen die Fragen, sieht sie wieder die Bilder: wie ihre Tochter Gretel zu den Gaskammern gebracht wird, während sie selbst gegen ihren Willen abtransportiert wird. Verlust begleitet sie ständig, doch der Schmerz steht im Laufe ihres Lebens unterschiedlich stark im Vordergrund. Lange Zeit will sie ihn nicht zuzulassen: „Ich wollte leben“. Mit zunehmendem Alter, nach dem Tod des Mannes und der Brüder, nimmt der Schmerz um die Liebsten mehr Raum ein. Er ist Hauptmotiv ihrer Erinnerungen, er ist Anlass, ihr Schicksal zu teilen. Ihre Motivation benennt Zilli ganz eindeutig: „Unsere Menschen sollen nicht vergessen werden!“ und: „Ich will, dass die Welt erfährt, was mit den Sinti passiert ist. Ich will, dass sie wissen, was da war in den Lagern, was sie mit den armen Kindern gemacht haben. Ich will, dass sie wissen, wie das ist, weiterzumachen, wenn man alles verloren hat, was einem lieb war.“ Darüber hinaus ist sie überzeugt „Ich hatte Gott bei mir, schon immer. Er hat mit mir etwas vorgehabt: Jemand muss sagen, was sie mit den Sinti gemacht haben, – damals, die Nazis. Das wissen viele heute immer noch nicht. […] Ich habe einen Auftrag. Solange ich noch hier bin, erzähle ich meine Geschichte und vergesse es auch nicht. Ich vergesse es nicht und erzähle meine Geschichte, bis ich meine Augen zumache und bin bei meinem Herrn“.
Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*ze wird gesamtgesellschaftlich und in staatlichen Institutionen, in Behörden wie Polizei oder Jobcenter, im Bildungssystem, in Organisationen der Zivilgesellschaft ebenso praktiziert, wie in den Wohnzimmern der „Mitte der Gesellschaft“. Häufig wird er wie die erheblichen Folgen für die Leben derjenigen, die er trifft, dethematisiert und verdrängt. Statt die eigene Position in rassistisch-antiziganistischen gesellschaftlichen Strukturen zu überprüfen, wird abgewehrt und versichert, zu den Guten zu gehören. Damit wird das Problem verschärft, statt diesem entgegenzutreten. Dass Antiziganismus als Alltagsrassismus und Menschenbild politisch und gesellschaftlich verankert ist, wird gerade in Institutionen verneint, deren Selbstbild vom Gerechtsein geprägt ist, wo die Tätigkeiten den demokratischen Werten entsprächen. Doch der Weg zur Veränderung liegt einzig in der Bereitschaft, sich selbst in Frage zu stellen und gesellschaftliche Probleme mit eigenem Handeln zu verbinden.
TN bringen oft eine Art „Neugier auf die Anderen“ mit. Auf diese Neugier zu reagieren, birgt die Gefahr einer Re-Stigmatisierung durch Abfrage und Aktualisierung antiziganistischen Wissens. Anekdotische Berichte aus der Perspektive derer ohne Rassismuserfahrung werden als gesichertes Wissen übernommen, ohne dass eine Reflexion der eigenen Perspektive erfolgt. Daher hat Antiziganismuskritische Vemittlungsarbeit nicht Wissen über Sinti*zze und Rom*nja zum Gegenstand, sondern ordnet die vorhandenen Wissensbedürfnisse in rassistische Strukturen ein und informiert darüber, welche Folgen solche Vorstellungen und Praktiken haben. Diese Arbeit beruht auf dem Bewusstsein, dass die Ursachen des Antiziganismus mit jenen zu tun haben, die ihn un/bewusst praktizieren und nichts mit jenen, die er trifft. Die Institutionen der Zivilgesellschaft können wesentlichen Anteil an antiziganistischer, antirassistischer Arbeit nehmen und durch das Fragen danach, wer unterrepräsentiert ist, wessen Teilhabemöglichkeiten und Chancengleichheit verhindert wird, ihrer demokratischen Verantwortung gerecht werden.
Hinweis an die Gruppenleitung: Antiziganismuserfahrungen anzuerkennen, erfordert von denjenigen ohne eigene Rassismuserfahrungen einen Perspektivenwechsel. Es gibt keine antiziganismusfreien Räume, daher sind auch die Vermittler*innen angesprochen.
Jede*r hat bestimmte tradierte Vorstellungen von Sinti*ze und Rom*nja. Um dazu ins Gespräch zu kommen, lesen die TN die ersten beiden Absätze dieses Artikels. Für den anschließenden Austausch sind folgendes Leitfragen denkbar:
– Was haben Sie mitgenommen? Was war neu oder überraschend für Sie?
– Können die Sie in Ihrem persönlichen Alltag anknüpfen an Erfahrungen und Beobachtungen?
– Wie sah Ihre Ausbildung in Hinblick auf Informationen über den Genozid an den europäischen Sinti*zze und Rom*nja aus? Sehen Sie Anknüpfungspunkte in Gesprächen oder in Medienrezeption zu Inhalten des Artikels?
Lesen Sie mit der Gruppe „Der nationalsozialistische Völkermord an den Sinti*ze und Rom*nja Europas“, „Gott hat mit mir etwas vorgehabt!“ und „Verantwortung und Wissen – Antiziganismus entgegentreten“.
Optional kann „Die bringen nur die Verbrecher weg“ über Zilli Schmidt geschaut werden, dieser Kurzfilm ermöglicht empathische Annäherung. Im Austausch ist zu erwarten, dass einige TN betroffen und berührt sein werden, geben Sie Raum und kontextualisieren Sie die Gefühle in der Diskussion:
Diskutieren Sie, was die TN für die Gegenwart ableiten, und erörtern Sie die Frage der Verantwortungsübernahme für diese deutsche Geschichte und die heutige Umsetzung.
Die TN setzen sich einzeln oder in Kleingruppen (3-4 TN) damit auseinander, wie Antiziganismus erfahren wird. Dazu schauen Sie sich Clips an, die vom ‚Bündnis für Solidarität mit den Sinti und Roma Europas‘ (https://romaday.org/Antiziganismus) bereitgestellt werden. Sieben Personen, die Journalistin Agnès Daroci, der Genozidüberlebende Mano Höllenreiner, die Theatertrainerin Mariana Roman uvm. berichten über Erfahrungen, über Strategien um Rassismus zu begegnen und über Wünsche für die Zukunft. Jede*r TN sollte min. drei Clips sehen, um vielfältige Eindrücke von den Betroffenen und Dimensionen des Antiziganismus zu erhalten.
Danach treten die TN in einen moderierten Austausch. Lassen Sie dabei Raum für die Portraitierten in ihrer Vielfalt, wie für die unterschiedlichen Erfahrungen und Gegenstrategien der Akteur*innen.
Wenn Sie das nächste Mal auf eine Person treffen, die Sie als Rom*nja oder Sinti*ze lesen, wenn Sie Medienarbeit rezipieren, in der es explizit oder implizit um Sinti*ze oder Rom*nja geht, achten Sie auf Bilder oder Zuschreibungen, die Sie kennen oder bisher teilten. Versuchen Sie den Perspektivwechsel.
»Die bringen nur die Verbrecher weg«, sagte Zilli Schmidts Vater, als die Nationalsozialisten die ersten Sinti*ze und Rom*nja verhafteten. Er irrte sich: Die gesamte Familie wurde nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Zilli Schmidt berichtet in dem erschütternden und zugleich berührenden Film von der Ermordung ihres Kindes und ihrer Familie, von ihrem Überlebenskampf, dem Weg zurück ins Leben und ihrem Glauben nach dem Völkermord. Abrufbar unter
https://www.youtube.com/watch?v=YsKzG8pvNYw
Für antiziganismuskritische Bildungsarbeit ist das Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus (Alte Feuerwache e.V., Jugendbildungsstätte Kaubstraße (Hg.), Münster 2012) empfohlen. Es bietet fundiertes und gut lesbares Grundlagenmaterial. Das methodische Konzept zeichnet sich durch Alltagsnähe und flexible Anwendungsmöglichkeiten aus. Die Verfasser*innen gehen von heterogenen TN aus, gehen auf die Perspektiven derer ein, die antiziganistischen Rassismus selbst erleben und rechnen zugleich mit TN, die an diesem beteiligt sind. So wird ein individueller, selbstreflexiver Zugang angeregt.
Jana Mechelhoff-Herezi, Historikerin, arbeitet als wiss. MA für den Bereich „Erinnerung an Sinti und Roma“ bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und ist Mitglied der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, die eine Bestands- aufnahme des Antiziganismus in Dtld. für die Bundesregierung vorlegen soll.
Die letzte Ausgabe der leicht&SINN zum
Thema „Bauen“ ist Mitte April 2024
erschienen. Der Abschluss eines Abonnements
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