Ausgabe 2 / 2019 Artikel von Karin Peschau

Kunst heilt Seele

Von Karin Peschau

Ach, wie schön, eine junge Dame!“ Die ältere Frau, die als erste Kundin in mein Taxi stieg, war entzückt. Taxifahrerinnen waren in den 1970er Jahren in Berlin noch eine Seltenheit.

Die Vorbereitung auf die Prüfung erforderte monatelanges Auswendiglernen fast aller Straßen, Plätze und Monumente West-Berlins. Wenig überraschend: Fast alle waren nach Männern benannt. Sollte es keine großen Frauen gegeben haben, würdig, einem Ort der Stadt ihren Namen zu verleihen? Das Forschen nach Frauen in der Geschichte wurde zu meinem zentralen Anliegen. Gemeinsam mit anderen Studentinnen des Fachbereichs Politische Wissenschaften begann ich meine feministischen Studien, und auch unsere Diplom-Prüfungen legten wir zu frauenspezifischen Themen ab.

Mit dem zweiten Studium der Malerei verwirklichte ich meinen Kindheitstraum in dem von mir so geliebten Land, in Italien. Alles, was ich bis dahin zu kennen meinte, bekam eine andere Dimension und Bedeutung. Türen öffneten sich durch meine Achtsamkeit, die sich auf alles richtete, was mich umgab. Forschend ertastete ich Gegenstände, Gesichter, Bäume, Tiere, Räume, Straßen, während ich skizzierte, Dutzende von Zeichenblocks, Fahrkarten, Zeitungsrändern und Kassenbons füllte. Bislang nicht gesehene andere Welten taten sich mir auf. Noch überwältigender war das Malen mit Farben, die ich nach Rezepten alter Meister selbst mischte – was ich heute noch tue. An der Akademie lernten wir antike Techniken wie Freskenmalerei und Gouache. Über eine weiße Wand ergossen sich Meere von Farben, „langweilige“ industrielle Massenware, Zimmerecken oder nichtssagende Straßenzüge wurden zu vibrierenden, vielfarbigen Feldern. Unscheinbare Gesichter zeigten sich mir in ihrer atemberaubenden Schönheit, alle Dinge um mich herum offenbarten sich mir in ihrem ihnen innewohnenden Wesen. Ich entdeckte, dass alles auf geheimnisvolle Art miteinander verbunden ist, und ich ein Teil davon bin. Hier begann ich etwas von der Kraft zu erahnen, die jeder einzelne Moment in sich trägt, und von der Schlüsselfunktion, die unsere konzentrierte Achtsamkeit dabei hat.
Die Suche nach dem Wunderbaren
„Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“, sagte Jesus von Nazareth. Über solche Erfahrungen, dass das „Wunderbare“ bereits hier ist, begab ich mich auf die Suche nach einem Wissen und nach Lehren, die über unser Alltagswissen hinausgehen.

Texte von Mystikerinnen wie Hildegard von Bingen, Marguerite Porete1 und Mechthild von Magdeburg, der Beginen, von Meister Eckhart, dessen Mutter in einem Beginenhof lebte, und von Dorothee Sölle und Mary Daly erweiterten meine Vorstellungen über das Göttliche. Intensiv habe ich mich auch mit den Lehren des armenischen mystischen Lehrers Georges I. Gurdijeff beschäftigt – sein Ziel war es, dass wir aus unserem von ihm als „hypnotischer Traumzustand“ bezeichneten Dasein erwachen und ein Leben in Einheit führen, „für das wir bestimmt sind“.

Die apokryphen Evangelien – wobei das Maria zugeschriebene2 eine ganz besondere Kraft in sich birgt – eröffneten mir die kanonischen Evangelien auf einzigartige Weise, erleuchteten mir viel von ihrer Bedeutung und ihrem Sinn.

Das Erwachen des Heiligen Weiblichen
Bei mir hat die Lektüre des Buchs „Am Anfang war die Frau“ von Elizabeth Gould Davis, 1971 erschienen, zu einem großen Erwachen geführt. Was mir bisher aus der Sicht der – männlichen – Herrschenden als „unsere Geschichte“ präsentiert worden war, wurde auf den Kopf gestellt. Von nun an gehörte ich nicht mehr dem – weiblichen – geschichtslosen Geschlecht an. Frauen, las ich, hatten in vorpatriarchalen Zeiten Macht und Einfluss und regierten in langen Zeiten des Friedens.

In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse für unsere matriarchale Vergangenheit gewachsen, und die Bedeutung der Mutter, der Frau, der Göttin in vorpatriarchaler Zeit steht im Zentrum von Forschungen. Die patriarchale Herrschaft besteht erst seit rund 5.000 Jahren, während die matriarchale Zivilisation über einen sehr viel längeren Zeitraum Bestand gehabt haben könnte. Ihre Prinzipien sind Respekt für die Natur, die Mutter, die Ahninnen, solidarisches, herrschaftsfreies Miteinander und die Wertschätzung des Weiblichen – also das Gegenteil der patriarchalen Werte, die auf Egoismus, Ausbeutung bis hin zur Zerstörung der Natur, auf Hierarchie, Ungleichheit und auf Unterdrückung des Weiblichen beruhen.

Noch heute existierende matriarchale ethnische Gruppen, wie die Mosuo in Südchina, zeigen, dass ein respektvolles, gewaltfreies Miteinander in Harmonie mit der Natur möglich ist.3 Ich bin davon überzeugt: Die Menschheit insgesamt muss sich auf die matriarchalen, das heißt „mütterlichen“ Qualitäten zurückbesinnen und sie schätzen und praktizieren. So können unsere zutiefst verwundeten Seelen Balance, Harmonie und Heilung erfahren und kann auch unser verletzter und gefährdeter Planet, die Erde, hoffentlich vor der vollkommenen Zerstörung bewahrt werden.

Kunst heilt Seele: Die Methode
Vor diesem Hintergrund habe ich „Kunst heilt Seele“ entwickelt. Meine Methode beruht auf vier Grundhaltungen:
¬ Achtsames Miteinander – denn ich weiß: Alles, was ich dir an Gutem oder Bösem antue, tue ich auch mir selbst an.
¬ Empathie – wobei die innere Beobachterin / der innere Beobachter aktiviert ist, damit mir wichtige Details nicht entgehen.
¬ Wertschätzung ohne zu bewerten
¬ Vertrauen in das ungeheure Potential, das jedem Menschen innewohnt, in den gesunden, „göttlichen“ Kern, der den Zugang zu Heilung und „Ganzwerden“ oder einem „bewussteren Sein“ ermöglicht

Die Methode wird getragen von dem Wissen, dass die Beschäftigung mit „dem Schönen“ einen positiven, heilenden Effekt hat. George Sand meinte gar: „Es gibt eine einzig wahre, große Trösterin: die Kunst.“ Kunst und kreatives Schaffen bringen uns in Verbindung mit unserem innersten Selbst. In einem gewissen Moment passiert so etwas wie ein Wunder. Es ist wie der kurze Augenblick, in dem wir vom Wachzustand in den des Schlafs eintreten, in einen Raum, in dem andere Regeln gelten. Alte und Junge, „Kranke“ und „Gesunde“, jede Frau, jeder Mann, jedes Kind kann dort hingelangen, dort hingeführt werden.

Diesem magischen Moment beizuwohnen ist ein Geschenk. Es setzt eine tiefe Entspannung ein. Ängste schwinden. Kopf, Herz und Hand sind vereint in dem Fluss kreativen Schaffens, in dem es keine Zweifel gibt.

Denn ich weiß,

was zu tun ist,

bin Welle, bin Wind

und werde doch getragen.

Die Reise mit dem fliegenden Teppich
In diesem Sinne und mit diesem Ziel habe ich „Kunst heilt Seele“ entwickelt. Die Methode kann mit jeder Art von Gruppen durchgeführt werden: mit Kindern, auch mit spezifischen Problemen wie Autismus, Trisomie 21 oder ADHS, mit Jugendlichen wie mit Erwachsenen und auch in Senior*innenheimen oder in Projekten kreativer Therapien für Psychiatriepatient*innen. Exemplarisch stelle ich den Ablauf eines Projekts für Kinder vor, das bereits in vielen Kindergärten und Schulen durchgeführt wurde – hier im Rahmen des Kinderworkshops „Katharinas und Martins Hochzeit“ bei der Weltausstellung in Wittenberg 2017.

Basis für dieses Projekt ist eine Haltung von Achtsamkeit, Vertrauen und Respekt dem Kind gegenüber. Ohne die Last der Erwartungshaltung und ohne Urteilen von gut/schlecht, brav/böse ausgesetzt zu sein, sollen die Kinder den „Zauber“ des gegenwärtigen Moments erleben. Der Fliegende Teppich trägt sie in andere Welten, ihre Phantasie wird angeregt, sie verbinden sich mit ihrem endlos kreativen Potential. Sie können in eine andere Zeit und in einen anderen Raum eintreten, Stress und Probleme zurücklassen. Das „Hier und Jetzt“ erfüllt das Sein wie eine sprudelnde Quelle, wie ein Meer ohne Grenzen. Die Seelenkräfte erwachen wieder, und es kann Heilung der kleinen und großen Wunden geschehen, die bereits jedes Kind erlitten hat.

Und so sind wir gereist:
¬ Wir bilden einen Freundschaftskreis, denn wir sind alle Kinder derselben „Mutter Erde“.

¬ Wir setzen uns auf den „sehr alten“ Teppich.

¬ Wir entspannen uns – zum Beispiel, indem wir dreimal tief ein- und wieder ausatmen, um ruhig zu werden.

¬ Wir finden und sprechen gemeinsam eine Zauberformel – zum Beispiel „Simsalabim – Teppich flieg dahin…“

¬ Der Teppich erhebt sich in die Lüfte, mit unserer Phantasie ist alles möglich…

¬ Wohin fliegen wir? Zum Beispiel nach – Nigeria! Auf einer Weltkugel schauen wir, wo wir jetzt sind und wo Nigeria liegt.

¬ Hoch oben in der Luft hören wir eine (gewaltfreie) Geschichte, ein Märchen oder einen Mythos (in dem keine Rollenklischees enthalten sind) aus dem Land unserer Wahl. Das stimmt uns auf das fremde Land ein. Ein Regenstab oder eine Ocean-Drum oder ein anderes verfügbares Perkussionsinstrument begleitet uns.

¬ Wir landen in dem uns unbekannten Land …In der vorbereiteten Umgebung sehen die Kinder einige Objekte aus dem Land, Bücher mit einheimischen Tieren, Landschaften usw. ausgelegt. Jedes Kind kann sich in jedem Moment davon inspirieren lassen.

¬ Auf einem Tisch liegen Farben und Pinsel. Große Blätter liegen bereit, die Kinder können darauf malen, was sie am meisten beeindruckt hat.

¬ Schließlich reisen wir zurück nach Hause. Wir beenden unsere Reise, wie wir sie begonnen haben: mit dem Freundschaftskreis.

Am Ende des Projekts wählen die Kinder diejenigen ihrer Bilder aus, die sie bei der Ausstellung präsentieren oder mit denen sie ihre Räume schmücken möchten – eine weitere erfahrene Wertschätzung. (Nicht nur) Kinder lassen sich liebend gern auf solche Reisen ein, die sie mit allen Sinnen und mit Hilfe der Phantasie erleben können!

Anmerkungen
1) Marguerite Porete war eine französische Schriftstellerin und Mystikerin, die die Bibel ins Französische übersetzte und das Buch„Der Spiegel der einfachen Seelen“ herausbrachte. Sie wurde am 1. Juni 1310 in Paris öffentlich als Ketzerin verbrannt. Keine Straße, kein Platz wurde bislang nach ihr benannt.
2) Gemeint ist Maria von Magdala – vgl. Silke Petersen: Maria aus Magdala, in: WiBiLex – https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/51979/
3) Francesca Rosati Freeman hat u.a. einen Dokumentarfilm über die Mosuo gedreht, der in italienischer, englischer und französischer Sprache und auch in einer Version mit deutschen Untertiteln verfügbar ist. – weitere Informationen und Bestellmöglichkeit über ihre Internetseite http://www.francescarosatifreeman.com/ita/home.html

Karin Peschau hat Politische Wissenschaften und Kunstpädagogik in Berlin studiert und Malerei in Verona. Für die Weltausstellung 2017 in Wittenberg hat sie 22 „reformatorische“ Frauen aus zehn Jahrhunderten porträtiert. In Kürze erscheint ihr Buch mit Mythen und Geschichten, Übungen und Hintergründen. Für Workshops und Weiterbildungen steht sie gern zur Verfügung. www.kunstheiltseele.jimdo.com

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