Ausgabe 1 / 2022

Frauen, Kirche und Macht

Macht und Vollmacht der Ohnmächtigen

Ich sitze in einem Empowerment-Workshop für Schwarze Frauen und es geht um Macht. Wir sollen Assoziationen anhand der Buchstaben aufschreiben. Für den Buchstaben „M“ können sich die Frauen um mich herum gar nicht entschieden. Die allermeisten schreiben „Männer“, aber es fallen auch noch die Worte: Missbrauch oder Manipulation. Zu „A“ schreibe ich allgegenwärtig“ und bei „C“ traue ich mich „Chance“ zu schreiben, fühle mich aber gleichzeitig unwohl dabei. „H“ ist wieder einfach: Hierarchie und Herrschen. Bei „T“ entscheide ich mich für „trotzen“. Da steht sie also, meine Wortkette zu MACHT: Männer, allgegenwärtig, Chance, Hierarchie, trotzen. Es wird deutlich, dass wir alle eher negative Assoziationen mit Macht haben, wohingegen Männer ihr gegenüber wohl neutral bis positiv eingestellt sein sollen.

Das Gefühl der Ohnmacht kenne ich aus meiner frühesten Biografie sehr gut. Als Kind of Color wuchs ich in einer weißen Familie, Kirche, Kindergarten und Schule auf. Ich war etwas Besonderes und gleichzeitig wurden mir Rollen zugeschrieben, denen ich ohnmächtig ausgeliefert war. Die Menschen um mich herum waren mir liebevoll zugewandt und hatten gute Absichten. So war klar, dass ich die Maria im Krippenspiel spielen sollte, aber auch die gut gemeinte Hauptrolle des Affen King Loui bei der Schulaufführung des Dschungelbuchs. Eine Wahl hatte ich bei beidem nicht. Mein Gefühl des Unwohlseins konnte ich nicht mal in Worte fassen und fügte mich allem kommentarlos. Sie meinten es schließlich gut.

Auch in der Jugendarbeit meinten sie es gut, als gern mein Migrationshintergrund betont wurde und ich auf jedem Foto vorne stehen sollte, weil ich Farbe ins Bild brächte. Die Frage, was denn in einer deutschen weißen Familie genau mein Migrationshintergrund bedeuten könnte, traute ich mich nicht zu stellen. Ich kannte auch nur Kartoffeln, Hühnersuppe und Eintopf, sprach Deutsch und las dieselben Bücher, wie alle meine weißen deutschen Freund*innen. Ohnmächtig und sprachlos ließ ich mich auch dort so bezeichnen. Meinte ja niemand böse und ich war stets jemand besonderes.

Mit Mitte 20 fing ich an Bücher von Schwarzen Deutschen zu lesen. May Ayim, Noah Sow und andere gaben mir Worte für all das, was ich erlebt hatte. Ich lernte eine Sprache dafür und hatte plötzlich Rolemodels, die mich ermutigten, ein Machtwort zu sprechen, wenn es mir das nächste Mal passiert. Und das tat ich auch:  Ich sprach Missstände an, korrigierte meine Mitmenschen  in ihrer Sprache, machte meine Perspektive transparent. Manche zeigten Verständnis, andere reagierten mit Abwehr, Verteidigung und Unverständnis. Es gab Momente in denen fühlte ich mich dadurch zumindest etwas weniger ohnmächtig. Im Großen und Ganzen aber interessierte es die Menschen in der Kirche einfach nicht – galt als individuelle Betroffenheit, nicht als strukturelles, innerkirchliches Problem.

In der Ökumene hingegen gab es Menschen, bei denen ich nicht nur auf Gehör stieß, sondern auch noch viel lernen konnte. So fand ich meinen Platz bei der Vereinten Evangelischen Mission. Ein ehemaliges Missionswerk, das sich seit 1996 nicht mehr als solches versteht und sich auf allen Ebenen internationalisierte. Nicht zuletzt, weil Schwarze Frauen ihre Stimme erhoben. Diese Frauen beeindrucken und ermutigen mich bis heute.

Eine solche Arbeitgeberin im Rücken zu haben machte mir Mut. Ich fing an, öffentlich über Rassismus in der Kirche auf Instagram zu posten. Als George Floyd ermordet wurde, bekam das alles noch mehr Aufmerksamkeit. Mir folgen heute fast 6.000 Menschen auf meinem Account, ich bekam Angebote ein Buch zu schreiben, stand plötzlich im ARD Fernsehgottesdienst, Menschen hören unseren Podcast, laden mich zu Interviews ein, wählen mich in Leitungsgremien. Menschen in vermeintlich machtvollen Positionen unserer Kirche belächeln nun weniger, was ich auf Social Media tue. All das hätte das Mädchen, das King Loui spielen musste und für den Migrationshintergrund vorne aufs Bild sollte, niemals für möglich gehalten.  Wie oft wurde mir in der Schule signalisiert, ich störe zu viel, solle leiser sein? Wie oft wurde mir der gut gemeinte Ratschlag gegeben, weniger aufzufallen? Daraus ergaben sich Glaubenssätze, die mir bis heute nachhängen.

So gibt es eine leise Stimme in meinem Hinterkopf, die mir nicht nur sagt, dass Macht negativ ist, sondern mir auch zuflüstert, sie stünde mir nicht, ich solle weniger auffallen, freundlicher sein, denn hinterher würden doch alle feststellen, dass ich es eigentlich nicht draufhabe. In der Psychologie gibt es sogar einen Begriff dafür: Impostor Syndrom oder auch Hochstapler*innensyndrom. Dieses Syndrom ist gerade unter Frauen unserer Gesellschaft weit verbreitet. Laut einer US-amerikanischen Studie ist die Wahrscheinlichkeit bei Frauen of Color um 20% höher, daraus sogar eine psychische Erkrankung zu entwickeln.1 Selbst erfolgreiche Frauen neigen dazu, ihren Erfolg dem Glück zuzuschreiben und haben Angst, als Betrüger*innen aufzufliegen. Das hängt damit zusammen, das besonders Mädchen (of Color) früh beigebracht wird nicht aufzufallen, um so Verletzungen vorzubeugen. Dennoch bot mir diese Strategie keinen Schutz vor Ausgrenzung und Verletzung. Gleichzeitig ist die Erfahrung, die eigenen Gefühle abgesprochen zu bekommen, omnipräsent.

Das all dies mit strukturellem Rassismus und patriarchaler Unterdrückung zusammenhängt, wurde mir erst nach und nach klar und ich entdecke heute noch Neues. Es gibt Momente, da fühle ich mich mächtig und es gibt Tage, an denen habe ich das Gefühl: Es ändert sich eh nichts. An diesen Tagen liegt die Kapitulation vor dem Status Quo nahe und dennoch – es treibt mich immer wieder an, weiter zu machen.

Ich will Macht nicht denen überlassen, die sie ausschließlich positiv sehen. Ich will machtkritisch bleiben und sie dennoch zum Guten nutzen. Auch wenn ich keinen strukturiert fertigen Plan in der Schublade habe, mit dem wir von jetzt auf gleich Transformationsprozesse anschieben, deren Auswirkungen wir nächstes Jahr sehen werden, verändern sich peu á peu Dinge. Die transformative Kraft kommt von unten.  Es sind mittlerweile viele Menschen in der Kirche, die Machtverhältnisse kritisch sehen und deren Stimmen auf Social Media, in Gremien und auf Gemeindeebene lauter werden. Die gesamte Debatte um sexualisierte Gewalt hat dazu geführt, über Macht und Ohnmacht in der Kirche neu und sensibler nachzudenken. Die Initiative #outinchurch zeigte, dass Menschen sich selbst in der machtvollen katholischen Weltkirche Gehör verschaffen, wenn sie sich zusammentun.

Genau darauf setzen wir unser Vertrauen: Netzwerke schaffen. Ich merke, dass ich mich durch Netzwerke nicht nur machtvoller fühle, sondern es auch bin.  Ich weiß, ich bin nicht allein unterwegs. Ich habe im Netzwerk von Menschen of Color in der Kirche Geschwister, die mich bestätigen, dass ich mir manches nicht einbilde, sondern Struktur dahintersteckt. Das macht mich mutig und stark. Dadurch sprechen wir alle in unseren Bereichen Missstände deutlicher und lauter an. Darüber hinaus sind wir mit weißen Menschen verbunden, die Rassismus ebenfalls als gefährliches, strukturelles Problem innerhalb der Kirche sehen und etwas verändern wollen, damit Kirche in einer pluralen Gesellschaft mit unterschiedlichen Identitäten nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwindet.

Durch so viel Gehör und Aufmerksamkeit merke ich, wie Menschen um mich herum, die vielleicht in der Hierarchie höher stehen, plötzlich weniger Ablehnung zeigen und sich weniger mächtig fühlen, obwohl sie es de facto sind. Besonders durch Social Media wurden die Machtverhältnisse der Kirche, gerade in der Pandemie, nochmal neu verteilt. Kirche ist davon irritiert, zeigt sich interessiert skeptisch und es macht vielen Menschen „ganz oben“ Angst, wenn sie merken, dass ihre Osteransprache aus dem Dom von 150 Menschen gehört wird, wohingegen eine Pfarrerin auf Instagram 20.000 Klicks auf einer Passionsandacht hat, die sie aus ihrem Wohnzimmer streamt.

Darin liegt unsere Chance, die wir nutzen sollten: um zu zeigen, dass Machtverteilung, wie sie kirchlich definiert wird, nicht mehr zeitgemäß ist. Machtspielchen sind vielen zu anstrengend und andere Definitionen von Macht sind wirksam. Die Gesellschaft will das Wohnzimmer sehen und nicht den Dom. Sie wollen Menschen zuhören, die negativ von Rassismus betroffen sind, fachliche Expertise mitbringen und so eine Perspektive aufzeigen, die viel zu lange unsichtbar war. Ein weiteres Kirchenstatement, das Rassismus als Sünde betitelt und diesen gleich weit von sich weist, hat keine Relevanz in der Öffentlichkeit.  Es bleibt eine leere Phrase, die nichts mit aktuellen Debatten über Identitätspolitik, strukturellem Rassismus im Bildungssystem, der Polizei und dem Alltag zu tun hat. Menschen wollen Menschen sehen und keine Roboter, die Daten, Fakten und hochgestochene Statements in 10 Punkten ausspucken.

Ich erinnere mich an einen alten Apell von Philipp Potter auf der zweiten Weltjugendkonferenz aus dem Jahr 1947. Er wurde später der erste Generalsekretär aus dem Globalen Süden des Ökumenischen Rates der Kirchen und sagte 1947 als 25-Jähriger: „Jesus Christus als Herrn zu bekennen, das heißt, nicht in der Liebe zur Macht zu leben, sondern durch die Macht der Liebe.“ Potter sagte das in eine Situation hinein, in der sich junge Christ*innen erstmalig nach Ende des Zweiten Weltkrieges trafen und aus Ländern kamen, die kurz zuvor noch im Krieg miteinander verstrickt waren. Er sagte es als Schwarzer karibischer Mann aus einer vermeintlich ohnmächtigen Perspektive und seine Worte haben bis heute Macht. Mutige Menschen wie er haben unsere Gemeinschaft von Christ*innen weltweit bewegt und verändert – das war ihm selbst 1947 wahrscheinlich noch nicht bewusst.

Die US-amerikanische Aktivistin, Autorin und Professorin bell hooks beschrieb ebenfalls vor 20 Jahren die transformative Kraft der Liebe und meinte damit weniger Romantik, sondern den dadurch entstehenden Antrieb in politischen Kämpfen. Durch diesen Antrieb könne sich Gesellschaft radikal verändern. Diese Liebe präge die Fähigkeit und Bereitschaft, aneinander zu wachsen und dadurch wohlwollend einander und sich selbst anzunehmen.  Ich habe großes Vertrauen, dass Menschen diese Liebe mehr und mehr spüren und sich danach sehnen. Nicht umsonst ist das Hohelied der Liebe aus 1.Korinther 13 einer der meist zitierten Bibelverse. Zum Teil durch die vermeintliche Romantik, aber sicherlich auch durch die Sehnsucht nach solch einer Liebe auf allen Ebenen der Gesellschaft: vom Bundestag über den Dom bis ins Wohnzimmer.

Die Macht der Liebe steckt tief ins uns, wir suchen nach ihr und sie kann jede Hierarchie durchdringen und verändern.  Es braucht Zeit und auch ich kann mir nicht endgültig vorstellen, wie das im Detail aussehen wird. Als Christin bin ich aber gewöhnt an etwas zu glauben und mich für etwas einzusetzen, das ich mir schlussendlich nicht ganz vorstellen kann. Nicht umsonst beten wir regelmäßig: Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft bewahre unsere Herzen und Sinne.

Anmerkungen
1)  https://rosa-mag.de/das-gefuehl-eine-mogelpackung-zu-sein-schwarze-frauen-und-das-imposto

Sarah Vecera, Stellvertretende Leiterin der Abteilung Deutschland der Vereinten Evangelischen Mission; Autorin „Wie ist Jesus weiß geworden“ und auf Instagram zu finden unter @moyo.me.

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