Ausgabe 1 / 2022 Artikel von Nina Kleinsorge

Kirche jenseits der Parochie

Queere Gemeinden als Beispiel für innovative Gemeindeformen

Von Nina Kleinsorge

Queere Gläubige finden sich außerhalb (landes-)kirchlicher Strukturen zu Gottesdienstgemeinschaften zusammen und bauen ihre eigenen (Gottesdienst-)Gemeinden auf: Mancherorts kommen sie ausschließlich zur Gottesdienstfeier zusammen, manchmal etabliert sich eine Gemeindestruktur aus einem lebendigen Miteinander samt z. B. regelmäßiger Veranstaltungen und der Möglichkeit, die Sakramente zu empfangen.

In Gemeinden der verfassten Kirche hingegen sind queere Menschen kaum sichtbar, in der liturgischen Praxis werden ihre Bedürfnisse nicht abgebildet. In der geringen Kirchenbindung von Queers spiegelt sich die bis heute wirkende restriktive Sexualmoral und ablehnende Haltung von Kirche gegenüber allen Lebensformen abseits der Heteronormativität wider. Während Queers gesellschaftlich immer mehr Akzeptanz erfahren, werden sie als Subjekte von Theologie und theologischer Praxis weder repräsentiert noch inkludiert. Insbesondere in freikirchlichen Gemeinden hält sich eine aggressive Homo- und Transfeindlichkeit, die bei Queers zu einer internalisierten Aversion der eigenen Person führt; nicht selten folgen Konversionstherapien und schwere psychische Verletzungen bis hin zu Suiziden.

Trotz dieser Erfahrungen suchen Queers nach Orten um ihrer Spiritualität Ausdruck zu verleihen. In queerer Theologie z. B. entdecken auch nicht kirchlich verwurzelte Queers das befreiende Moment der christlichen Botschaft für sich. Anhand der Befunde über das Selbstverständnis queerer Gemeinden und der Bedürfnisse ihrer Mitglieder möchte ich integrative Gemeindekonzeptionen neu betrachten und reflektieren.1


Betont werden vier praktische Aspekte, denen sich queere Gemeinden verpflichten: Gemeinschaft, Akzeptanz der Person, Offenheit und Teilhabe an der Gemeinde. Das Selbstverständnis der Gemeinden korreliert mit den Bedürfnissen ihrer Gemeindemitglieder, welche allein Maßstab für die Gestaltung von Gemeindeleben und liturgischer Praxis sind. Diese Bedürfnisse werden kurz dargestellt, da sie zugleich Anforderung an eine Gemeinde sind, derer sich Queers zugehörig fühlen können.

Queers suchen nach Gemeinschaft, in der sie sich geborgen wissen und in der sie die durch Isolationserfahrungen und Fremdmachung entstandenen Schmerzen überwinden können. Wichtig seien Gottesdienst, Gruppentreffen oder Wochenendfahrten, wo Begegnung mit Menschen möglich ist, die ähnliche Diskriminierungserfahrungen machten. Beim biografischen Austausch im Hauskreis oder in Fürbitten und im Gottesdienst können die Gemeindemitglieder „gemeinsam Verletzungen entdecken, zulassen und Heilung suchen“.2 Diese queeren Gemeinden ermöglichen Menschen, die in ihrer Parochialgemeinde nicht gesehen oder nicht angesprochen, manchmal aktiv verstoßen werden, eine neue Identifikation mit christlicher Religion. Sehnsucht nach Akzeptanz wird dadurch erfüllt, dass die zuvor erlebte Dichotomie von Sexualität/Gender und Spiritualität/Religiosität in Gemeinde und Gottesdienst aufgehoben wird, wodurch die einzelne Person sich ganz angenommen weiß in der Gemeinschaft und von Gott: „Ich fühle mich willkommen, weil ich als Frau mit Bartschatten angenommen werde“, so eine Stimme aus dem Queergottesdienst in Karlsruhe. Das Gemeinschaftsgefühl führt zu großer Bereitschaft, Gottesdienste aktiv mitzugestalten. Laien sind verstärkt bereit, Gottesdienst und Gemeinde zu leiten, wenn sie große Offenheit bezüglich der Bekenntnisse erleben. Queere Gemeinden verstehen sich (meist) als konfessionsübergreifend. Oft aus der Not heraus geboren, etablieren Menschen eigene Gemeindestrukturen und durchbrechen Denkmuster, die sich aus subjektiver Erfahrung speisen: Es entsteht ein Kommunikationsraum, der zur Selbstreflexion einlädt und Menschen im Gespräch zusammenführt.

Erfahrungen queerer Gläubiger speisen bestimmte Gemeindestrukturen – eine starke Orientierung an den Basisgemeinden der Befreiungstheologie bspw.: Emanzipation, Empowerment und Befreiung bilden das theologische Fundament, das einen würdevollen Blick auf das Subjekt ermöglicht. Daher tragen Laien maßgeblich Gemeindeleben und liturgische Praxis. Sowohl die egalitären Strukturen und die Eigeninitiative jenseits kirchlicher Verfasstheit als auch die Offenheit gegenüber anderen religiösen Gemeinschaften zeigen eine antihierarchische Positionierung queerer Gemeinden. Darüber hinaus verstehen sich die Mitglieder einer Basisgemeinde dezidiert politisch und nehmen Partei für Marginalisierte ein.

Weiterhin finden sich Parallelen zu den sog. Profilgemeinden, bei denen eher die Zielgruppe fokussiert wird. Profilgemeinden und andere kirchenreformatorische Ansätze wollen eine Zielgruppe ansprechen, die bereits in landeskirchlichen Strukturen religiös sozialisiert ist, was auf Mitglieder queerer Gemeinden nicht unbedingt zutrifft. In queeren Gemeinden sind Queers zugleich Adressat*innen und Veranstalter*innen.

Können queere Gläubige überhaupt als Zielgruppe bezeichnet werden? Schließlich können queere Menschen nicht einem bestimmten Milieu zugewiesen werden, (queere) Identität im Kontext von Generationsunterschieden sowie von gesellschaftspolitischem Engagement und Verbundenheit zur Kirche variieren. Jedoch handelt es sich bei einer Zielgruppe nie um eine homogene Adressat*innengruppe. Spätestens seit Kimberlé Crenshaw Ende der 80er Jahre Intersektionalität ins allgemeine Bewusstsein rückte, wird Diskriminierung differenzierter betrachtet Genauso wenig wie bspw. Women of Colour in unterschiedlicher Weise und nicht ausschließlich Erfahrung mit Rassismus machen, sondern darüber hinaus mit Sexismus oder Ableismus, können auch Queers neben homo- und transfeindlichen Diskriminierungen z. B. klassistische Demütigungen erfahren. Eine Kirchengemeinde, die sich einer Gruppe von Menschen in besonderem Mafle widmet, tut dies intersektional und in Anerkennung der Diversität.

Es handelt sich also nicht um eine homogene Gruppe. Trotzdem können Gemeinsamkeiten ausgemacht werden, die gerade unter Anerkennung der Unterschiede die Bezeichnung als Zielgruppe von queeren Gläubigen rechtfertigen: Bspw. ähnliche Diskriminierungserfahrungen und andauernde Mikroaggressionen aufgrund der sexuellen Orientierung und Identität.

Wird die queere Community als Zielgruppe begriffen, kann auf ihre Erfahrungen, Bedürfnisse und Wünsche eingegangen und ein auf sie zugeschnittenes Profil entwickelt werden. Andersherum gilt: Sofern ein Gemeindeprofil erkennbar ist, kann dies bestimmte Zielgruppen und Milieus ansprechen und ihnen eine religiöse Heimat bieten. Profilgemeinden bieten die Chance, spezifische Angebote für eine Zielgruppe zu schaffen, z.B. professionelle seelsorgliche Begleitung queerer Menschen, theologische Begleitung bei Identitätskonflikten zwischen Vereinbarkeit ihres Glaubens und ihrer sexuellen Orientierung, sowie geschlechtssensible Kasualgottesdienste zur Trauung oder Transition.

Ist daraus zu folgern, dass jede Community ob queer, arm oder Schwarz auf sie ausgerichtete Gottesdienste feiern und eine eigene Gemeinde etablieren sollte? Oder kann eine inklusive Gemeinde eine so heterogene Zielgruppe wie Queers berücksichtigen und ansprechen?

Konzeptionen zu Profilgemeinden wird entgegengebracht, dass die Kirche durch „Sondergemeinden“ in kleine Fetzen auseinanderbrösle und somit ihren inneren Halt verliere. Diverse Zielgruppen und Milieus, Profile wie urban oder kulturell finden sich viele. Eine Koexistenz verschiedener (Profil-)Gemeinden ohne jegliche Berührungs- und Begegnungspunkte lagern Probleme aus oder ignorieren sie. Unbeliebte Themen werden in andere Gemeinden abgeschoben, der gemeinsame Diskurs und damit die Sichtbarkeit von Queers wird verweigert. Da aber die Gruppe der queeren Gläubigen heterogen ist, kommt es bei einzelnen Milieus und Zielgruppen zu Überschneidungen. Eine Profilgemeinde spezialisiert sich besonders auf ein Thema (Bsp. Gospelkirche) oder eine Gruppe von Menschen (Bsp. Jugendkirche), muss sich aber gleichzeitig um das Etablieren einer wahren Gemeinschaft von einzelnen Individuen bemühen, in der der Diskurs und die Akzeptanz des Anderssein gelebt wird.

Im Hinblick auf pastorales Handeln kann eine Profilgemeinde Entlastung bieten, weil Stärken und Interessen der Pfarrperson ernstgenommen und gefördert werden. Bei Bedarf wird ohne Umstände an andere Gemeinden verwiesen und die Kirchenmitglieder wählen ihre Ge
meinde frei. Sehr oft sind Menschen bereit, für ihre Interessen längere Anfahrtsstrecken in Kauf zu nehmen. Während die Ortsgemeinde dem Prinzip der Flächendeckung folgt und alle Bestrebungen der Fusionen und Regionalisierungen an diesem Prinzip krampfhaft festhalten – aller Überlastung von Haupt- und Ehrenamtlichen zum Trotz – machen die bestehenden queeren Gemeinden Mut, Gläubige als selbstständige Subjekte ernst zu nehmen, die neue Strukturen etablieren wollen/können/sollen. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen andere (mehr oder weniger) innovative Gemeindeformen. Die Studie „Atlas neue Gemeindeformen“.3 zeigt: Erprobungsräume, Fresh X Projekte und gemeinwesenorientierte Gemeinden weisen ähnliche Charakteristika wie das Selbstverständnis queerer Gemeinden auf. Gemeinde meint ein Handeln für und mit Menschen in ihrem jeweiligen Lebenskontext. Dabei spielt das Ehrenamt eine herausragende Rolle, weil Ehrenamtliche Kirche aktiv gestalten. Das Priestertum aller Gläubigen wird tatsächlich umgesetzt und somit ein Bottom up-Prozess begonnen. Während derzeit vor allem ältere Menschen Verantwortlichkeiten in Leitungsgremien übernehmen, liegt der Altersdurchschnitt der von der Studie analysierten Gemeinden bei 35 Jahren. Solche Initiativen überschreiten vielfach parochiale Grenzen, indem andere als die typisch kirchlichen Milieus angesprochen und Teilnehmende aus der ganzen Region statt der eigentlichen Ortsgemeinde kommen. Begünstigt wird diese Verjüngung und das breitere Einzugsgebiet durch das Bemühen um niedrigschwellige Teilnahme, weil kaum Vorkenntnisse vorausgesetzt werden oder Gottesdienste oft in nichtsakralen Räumen stattfinden. Ähnlich stark wie bei queeren Gemeinden konnte der Wunsch nach Vergemeinschaftung und einer darin enthaltenen stärkeren geistlichen Dimension auch in den von der Studie analysierten Gemeinden festgestellt werden. Trotz fehlender parochialer Struktur geschieht Gemeinschaft, indem das Konzept der Gemeinwesendiakonie wichtige Impulse setzt. Zuletzt sei noch auf die nachlassende Bedeutung der konfessionellen Bindung hingewiesen, die einen gegenwärtigen Trend deutlich macht: Wir handeln gemeinsam und das bedeutet ökumenisch.

Volkskirche mit top-down-Strukturen ist zu ihrem Ende gekommen. Dabei kann keine der genannten Organisationsformen allein alle Menschen ansprechen; unterschiedliche Gemeindeformen ermöglichen verschiedene Zugänge: Eine Kirche, welche die Kommunikation des Evangeliums möglichst vielen und unterschiedlichen Menschen überlässt, die die vielen Glieder Christi mit ihren unterschiedlichen Talenten fördert und feiert (1Kor 12).

Es geht darum, „sich arbeitsteilig als Kirche Jesu zu begreifen“ , weil die Kommunikation des Evangeliums immer fragmentarisch bleibt. Demnach sind zwar für bestimmte Zielgruppen bzw. Themen profilierte Angebote notwendig, diese stehen aber kooperativ neben anderen Gemeindeformen. Eine Sensibilität gegenüber Queerness ist darüber hinaus in jeder Gemeindeform Voraussetzung, sofern sie wirklich alle Menschen willkommen heiflen möchte (vgl. Joh 6,37).

Anmerkungen
1)
Zugrunde liegen die Forschungsergebnisse aus der empirischen Untersuchung verschiedener queerer Gemeinden im Rahmen meiner Examensarbeit. Bei weiterem Interesse gerne melden.
2) Terhart, Georg, Queergemeinde als Gemeinschaft der Heiligen. Oder: Wie kann das theologische Proprium einer Gemeinde von und für Schwule, Lesben und andere Queers aussehen?, in: Werkstatt Schwule Theologie (WeSTh) Nr. 1 (2003), 13-22, S. 20..
3) https://www.mi-di.de/materialien/atlas-neue-gemeindeformen.

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Zum Weiterlesen:
Uta Pohl-Patalong, Kirche gestalten. Wie die Zukunft gelingen kann, Gütersloh, 2021.
Georg Terhart, Queergemeinde als Gemeinschaft der Heiligen. Oder: Wie kann das theologische Proprium einer Gemeinde von und für Schwule, Lesben und andere Queers aussehen?, in: Werkstatt Schwule Theologie (WeSTh) Nr. 1 (2003), 13-22.
Marilú Rojas Salazar, Queere Liturgik, in: concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie, Jg. 55/5 (2019), S. 576-583.

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Für die Arbeit in der Gruppe


Zeit
ca. 30 Minuten

Laut „Freiburger Studie“ werden Menschen und Mittel der ev. Kirche enorm zurückgehen, was nur teils demografisch begründet ist. Eine Ortsgemeinde erreicht lediglich 10% der Bevölkerung und darunter gruppenspezifisch vor allem ältere Menschen. Am Beispiel der queeren Gläubigen zeigt sich eine integrative Unfähigkeit, die eine kritische Reflexion der gemeindlichen und pastoralen Praxis notwendig macht.

Pfarrpersonen und Gemeinden, die sich als tolerant und offen bezeichnen, wundern sich: „Warum sind Queers in unseren Reihen nicht sichtbar?“ Arbeiten Sie die im Text genannten vier Aspekte queerer Gemeinden heraus und diskutieren Sie diese für Ihr eigenes, gemeindliches Handeln mithilfe folgender Fragen:

1. Wird die Lebenswirklichkeit von Queers abgebildet? In der Verkündigung (bspw. durch queere Protagonist*innen einer Erzählung oder einer kritischen Auseinandersetzung zu schmerzlicher Ausgrenzung queerer Menschen aus der Kirche), in den Fürbitten (bspw. durch thematischen Schwerpunkt anlässlich wichtiger Gedenktage wie den Transday of Remembrence);

2. Gibt es Möglichkeiten der Begegnung anderer queerer Menschen? In den Gemeindeangeboten (Bsp. Treff queerer Menschen, queere Seelsorge), durch Vernetzung mit anderen (zivilen) queeren Initiativen in der Region;

3. Wenn Kirche Lebensbegleiterin sein möchte, begleitet sie Menschen mit queerer Identität? In Transitionskasualien, gendersensible Jugendarbeit;

4. Werden queere Identitäten in einer gendersensiblen Sprache abgebildet? Keine binären Geschlechterkategorien, keine Einteilung bei Psalmlesung oder in der Konfirmand*innengruppe nach Geschlecht.

Nina Kleinsorge ist Vikarin in einer Göttinger Gemeinde. Sie arbeitet und experimentiert im Bereich queere Liturgie und ist Aktivistin für intersektionalen Queer-Feminismus.

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