Ausgabe 1 / 2020 Artikel von Gisela Matthiae

Oh! Aha! Ui!

Staunend durchs Leben spazieren

Von Gisela Matthiae

Man kann ins Staunen geraten angesichts eines spektakulären Sonnenuntergangs und ebenso angesichts eines Schmetterlings, der zart auf dem Buch landet, das man gerade im Freien liest. Oder auch nicht – denn Sonnenuntergänge hat man ja schon zahlreiche gesehen und Schmetterlinge sind leider selten geworden oder stören gar bei der Lektüre. Frau kann ins Staunen geraten über die Erzählung einer Freundin oder über das, was neuerdings auf der Rückseite des Mondes erforscht wird. Oder auch nicht – denn was die Freundin zu erzählen hat, ist selten etwas gänzlich Neues, und warum sollte es so spannend sein zu wissen, was „hinter dem Mond“ vor sich geht? Gilt nicht sogar als rückständig, wer hinter dem Mond lebt? Man kann ins Staunen geraten beim Betrachten eines Bildes eines holländischen Meisters aus dem 17. Jahrhundert und ebenso beim Betrachten der Zeichnung, die einem ein kleines Kind entgegenstreckt. Frau kann leicht staunen über einen grandiosen Wasserfall, den sie nicht nur sieht, sondern vor allem auch hört und sogar auf der Haut spürt, wenn sie sich zu sehr nähert. Man kann aber auch staunen über das leise Plätschern eines Baches, der über einen kreisrunden Stein mehr tröpfelt als fließt.


Und wenn das Staunen eine*n überwältigt, kann es leicht zu Entsetzen werden. Aber auch hier: Die eine ist entsetzt beim Hören von Nachrichten oder auch nicht – denn sind Nachrichten nicht immer grausam? Der andere bekommt es mit der Angst zu tun, wenn er von Raketenangriffen hört, und befürchtet eine neue Eskalation von Gewalt und Sterben. Manche verwundert das nicht, weil sie die Interessen der Beteiligten im Nahen und Mittleren Osten kennen. Die einen sind entsetzt zu hören, welche raffinierten Methoden die Großkonzerne anwenden, um keine Steuern zu bezahlen. Die anderen halten es für eine Art Naturgesetz, dass Reichtum immer noch reicher macht und Armut eben immer noch ärmer. Die eine staunt darüber, mit welchen Argumenten das neue Klimapaket angepriesen wird, der andere hat sowieso nichts anderes erwartet.

Es braucht nichts Spektakuläres, um ins Staunen zu geraten.

Das Staunen will gewollt sein!
Was den Willen zum Staunen – wie auch den Willen zum Humor – hervorbringt, ist eine gewisse Haltung: eine Haltung der Neugierde, eine Offenheit für Wahrnehmungen aller Art, eine Unvoreingenommenheit den Phänomenen gegenüber. Mit „Aufmerksamkeit“ ist diese Haltung ganz gut beschrieben, vielleicht noch besser mit dem englischen Begriff der „awareness“, übersetzt etwa „Gewahrwerden“. Dieses Gewahrwerden geschieht nicht nur überdie Augen, sondern mit allen Sinnen. In Achtsamkeitstrainings oder Aware-ness-Übungen soll wieder gelernt werden, die Sinne zu öffnen, die sich angesichts einer Flut von Eindrücken verschlossen haben. Allerdings kann einer nach ein, zwei Tagen U-Bahnfahren die Fähigkeit und die Lust, die Sinne zu schärfen und gar ins Staunen zu geraten, angesichts zu vieler Sinneseindrücke gründlich vergehen. Die tägliche Wirklichkeit, besonders in Großstädten, quillt über von Medienkontakten, die die Aufmerksamkeit binden. Die Ohren sind gefüllt von Straßen- und sonstigem Lärm, die Nase von Gerüchen aller Art, die Haut im Gedränge gestresst von unfreiwilligen Berührungen. Kein Wunder, dass es da heißt: Augen zu und durch!

Warum also sollten wir uns derart öffnen und mit wachen Sinnen durch große und kleine Welten streunen? Weil wir ansonsten nichts Neues erfahren, zumindest nichts anderes als das, was wir eh schon kennen oder meinen zu kennen. Bewahrt ein Sinn für Humor davor, alles und besonders Missgeschicke als tragisch und einfach nur schlimm zu deuten, so verhilft das Staunen zu einer ganz grundlegenden Lebenshaltung. Humor entdeckt das Komische in so vielen Situationen, das Staunen entdeckt die Dinge selbst, die Verhältnisse, die Begebenheiten, die Menschen um sich herum mit immer wieder frischen und neugierigen Sinnen. Umgekehrt: Wo das Staunen fehlt, macht sich eine Abgeklärtheit breit, die immer schon alles weiß und kennt. Und angesichts von entsetzlichen Nachrichten Zynismus – als eine Haltung, die keinerlei Hoffnung auf positive Entwicklungen mehr hat.


Freilich braucht es zur Bewältigung des Alltags verlässliche Routinen und gängige Abläufe. Es ist gut, auf viele Dinge klare Antworten zu haben. Aber solches Wissen und selbstverständliche Praktiken können auch einengen, und sie verhindern oft Entwicklungen oder Veränderungen. Was ist das denn? fragt das staunende Auge. Ach wirklich? fragt der staunende Mund. Wieso eigentlich? fragt das staunende Ohr. Das fühlt sich merkwürdig an! meint das sensible Herz. Und worum handelt es sich hierbei genau? fragt das neugierige Denken.


Das Staunen am Anfang oder am Ende jeder Philosophie?

Das Staunen galt Sokrates als Anfang jeder Philosophie. Jedenfalls lässt Platon dies Sokrates in seinem Dialog mit zwei Mathematikern sagen. Für Platon selbst ist das Staunen aber das Endziel jeder philosophischen Erkenntnis: Wenn alle Erklärung an ihr Ende gekommen ist, dann ist die Zeit des Staunens gekommen. Für Aristoteles ist das Staunen auch der „Beginn und Ansporn der Suche nach Erklärungen und nach einem tiefergehenden sachgerechten Verstehen“.1 Dient hier das Staunen als Motivation, noch besser zu verstehen, so staunt Platon „erklärungsgesättigt“2 an einem Punkt, wo etwas nicht weiter erklärt werden kann, also unbegreiflich ist: eine bewundernde Schau.

Staunen, wie ich es hier versuche zu beschreiben, lässt sich nicht entweder an einem Anfang oder an einem Ende lokalisieren – als ein Noch-NichtVerstehen oder als ein Nicht-Weiter-Verstehen-können. Ich meine auch nicht das Staunen angesichts der Wunder Gottes, wie etwa beim Betrachten eines Regenbogens. Auch das Staunen darüber, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts, trifft nicht ganz das, was ich mit Staunen meine. Vielleicht ist es am besten als ein mystisches Staunen zu verstehen. Es sieht ebenso von sich ab wie von bestimmten Absichten. Doch ist es auch mehr als ein andächtiges Innehalten. Denn es verändert den oder die Betrachtende und auch den Gegenstand der Betrachtung. Es macht aus Bekanntem wieder Unbekanntes,aus Alltäglichem wieder Ungewöhnliches, aus Merkwürdigem wieder Besonderes, aus Unsäglichem einen Ansporn zum Umdenken oder Handeln.

An der Universität von Kassel werden die sogenannten Spaziergangswissenschaften gelehrt.
Dabei geht es weniger um die Fortbewegung zu Fuß an sich als vielmehr um das, was beim langsamen und aufmerksamen Unterwegssein alles entdeckt werden kann. Das sind dann auch keine Erfahrungen, denn man fährt ja nicht. Es sind Erkundungen auf dem Weg. Als es noch nicht so schnelle Fortbewegungsmittel gab, sprach man doch auch noch vom „bewanderten“ Menschen. Alles kann mir – spazierend – zur Landschaft werden, nicht nur das, was üblicherweise Postkarten ziert. Eine Bauruine ebenso wie eine Wiese, übersäht von Maulwurfhügeln, ein Einkaufspark ebenso wie ein Hochseilgarten. Die Spaziergangswissenschaften lenken die Aufmerksamkeit auf das Alltägliche, um ihm mit Staunen Besonderheiten, Fragen, Ratlosigkeiten und kleine Freuden zu entlocken. Daher besteht mein zentraler methodischer Vorschlag im „Staunen gehen“. Ich wünsche viel Vergnügen beim neugierigen und humorvollen Umhergehen!


Für die Arbeit in der Gruppe


Zeit / jeweils circa 90 min

Oh! Aha! Ui!


Bringen Sie die Teilnehmerinnen gleich bei der ersten Runde zum Staunen. Alle sind angekommen, haben – in einem Kreis – Platz genommen, Sie sagen ein paar Worte zur Begrüßung und laden zu einer Vorstellungsrunde ein. Je besser Sie sich schon kennen, desto witziger und desto erstaunlicher. Denn es verlangt von allen, dass sie sich mit Erstaunen wahrnehmen. So, als würden sie sich eben noch nicht kennen. Sie geben drei sehr einfache Fragen vor:


– Wie heißen Sie?
– Woher kommen Sie?

– Auf was sind Sie heute besonders gespannt?


Das Besondere ist jetzt, dass die ganze Gruppe auf die Antworten mit Staunen reagiert. Und zwar in der Reihenfolge der Antworten auf die drei Fragen mit:

–  Oh!

– Aha!

–  Ui!

Und schon sind Sie mitten im Thema! Scheuen Sie sich nicht, es macht wirklich Spaß, besonders wenn Sie die Runde mit einem Augenzwinkern anleiten. Wer nicht so sehr darauf eingehen kann, wird sich mit den Tönen sowieso zurückhalten, die anderen werden viel lachen – und die Angestaunten werden erleben, wie gut es sich anfühlt: angestaunt zu werden!


Der staunende Blick


Verteilen Sie weiße Blätter, an jede eines. Bitten Sie die Teilnehmerinnen, diese hinter dem Rücken festzuhalten und dann, ohne es zu sehen, ein kleines Loch hineinzureißen. Achten Sie darauf, dass dabei nicht gesprochen wird; dann entsteht ein schöner Moment, in dem nur das Reißen von Papier zu hören ist. Dann darf jede ihr Papier betrachten. Anschließend fordern Sie dazu auf, nur durch dieses kleine Loch im Papier schauend umherzugehen und alles zu betrachten: den Fußboden, Gegenstände im Raum, Fenster, die Decke, die anderen, Füße, Schmuck, die Augen ….

Unterhalten Sie sich anschließend darüber, was Sie entdeckt haben und wie es war, die Welt nur durch die kleine Öffnung zu betrachten.

Zur Entspannung ist es gut, danach mit weit geöffneten Augen kreuz und quer durch den Raum zu gehen und sich gegenseitig anzuschauen, dabei nicht stehen zu bleiben, die Arme weit zu machen. – Vielleicht mögen Sie dazu eine beschwingte Musik auflegen.

Staunen gehen


Bauen Sie eine etwas längere Pause von circa 30 Minuten ein und schicken Sie die Teilnehmerinnen auf einen Spaziergang. Sie sollen bitte alleine losziehen und nichts anderes tun, als umherzugehen und die Dinge, Pflanzen, Tiere, Bauwerke, Wege… so zu betrachten, als seien sie ihnen nicht vertraut. Wer nicht gut zu Fuß ist, kann sich ja auch auf eine Bank setzen oder einfach einen Stuhl vor die Tür stellen. In der Winterzeit geht das natürlich nicht so gut. Alternativ können Sie zu einem Spaziergang im Gemeindehaus oder in der Kirche einladen. Bitten Sie die Teilnehmerinnen, sich Zeit zu lassen, die Augen wandern zu lassen, auf den Atem zu achten, gut auszuatmen. Vorneweg könnten Sie mit allen ein paar Übungen machen, bei denen die Arme weit nach oben gestreckt werden. Als Bild schlage ich vor, die Arme reifen Kirschen an einem hohen Baum entgegenzustrecken.


Dann mögen alle etwas mitbringen von ihrem Spaziergang – etwas Erstaunliches, und sei es noch so klein oder einfach oder alltäglich.

Jede darf dann in der Runde natürlich ihr Staunen vorstellen, aber damit es nicht zu langatmig wird, schlage ich vor, dass jede darstellt, also spielt, wie sie es gefunden hat oder zu welcher Reaktion es sie lockt. Die Frage dazu: Mit welchem Sinn haben Sie am meisten gestaunt? So entstehen kleine Momente der Überraschung, nicht länger als eine Minute. Wer aus der Gruppe mag, kann darauf mit einem Wort, einem Ton, einem Satz reagieren – mehr nicht.

Staunen als Lebenshaltung


Ein Gespräch kann angeregt sein durch einzelne Passagen aus meinem Text, die für Sie das Thema besonders gut zum Ausdruck bringen. Oder durch weitere Fragen wie:

– Wenn Sie (Ihre) Kinder oder Enkel beobachten: Wie sehr staunen sie, wie oft und wie nehmen Sie das wahr?
– Erinnern Sie sich daran, wann Sie das letzte Mal über einen Bibeltext / im Gottesdienst gestaunt haben?
– Können Sie sich Ihren Glauben ohne Staunen vorstellen?
– Ist jeder Mensch, der staunend durchs Leben geht, zugleich ein humorvoller Mensch?
– Wann wird aus Staunen Entsetzen?
– Staunen Sie mehr, bevor Sie einer interessanten Sache auf den Grund gehen, oder dann, wenn Sie etwas Interessantes herausgefunden haben?


Sie können die Fragen auch auf Karten notieren und jeweils eine Dreier- oder Vierergruppe eine ziehen lassen. Das bietet wieder ein Überraschungsmoment und wird auch die anderen überraschen, wenn die Frage und die Überlegungen aus der Gruppe später preisgegeben werden.

Ach so!


Und was war diesmal das Erstaunlichste für mich? Bitten Sie mit dieser Frage um eine kurze Abschlussrunde reihum. Wieder könnte die ganze Gruppe mit einem erstaunten „Ach so!“ reagieren.

Anmerkungen

1)
Sebastian Knell: Thaumazein. Über das Staunen als philosophische Haltung. In: Information Philosophie. Die Zeitschrift, die über Philosophie informiert. Heft 4/2015, 28-37, abgerufen am 8.2.2019 http://www.information-philosophie.de/index.php?a=1&t=8366&n=2&y=1&c=76.
2) 
Ebd., S. 6

Dr. Gisela Matthiae ist Theologin. Beim Schreiben dieses Beitrags staunte sie nicht schlecht über schneebedeckte Berge und kräftigen Wind, der den Schnee durch die Luft wirbelte. Sie staunte darüber, wie kalt es nachts sein kann und wie merkwürdig warm es dagegen zuhause in Deutschland ist. Teile des Beitrags finden sich in ihrem neu aufgelegten Buch „Wo der Glaube ist, da ist auch Lachen. Clownerie für Leib und Seele“, Freiburg (Herder Verlag) 2019.
www.clownin.de / www.kirchenclownerie.de / www.humorladen.wordpress.com.

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