Ausgabe 1 / 2018 Artikel von Cornelia Coenen-Marx

Schauen, in welche Richtung es mich weiterzieht

Von Cornelia Coenen-Marx

„Warum begreifen wir Frauen das Alter als Gefängnis?“ Die Mitinhaberin des Unternehmens und Modedesignerin Miuccia Prada, inzwischen 68 Jahre, sagt: „Für dieses Drama müssen wir eine Lösung finden. Wir haben ja nicht mehr nur ein Leben, nein, es sind mittlerweile zwei oder drei. Und es wird die Zukunft unsere Gesellschaft enorm beeinflussen, wie wir selbst mit dem Älterwerden umgehen.“

Die reiche Geschäftsfrau hat gut reden, mag sich manche denken. Sie hat keine finanziellen Probleme und kann sich aussuchen, was sie im Alter macht. Andererseits ist es ja gerade in der Welt von Mode, Medien und Schönheit schwierig, mit dem Älterwerden umzugehen. Und mir gefällt, dass Frau Prada nicht nur ihr eigenes Leben im Blick hat, sondern auch die gesellschaftliche Dimension des Themas sieht.

Ich bin tief davon überzeugt, dass in den Erfahrungen der Älteren ein unterschätztes Potenzial für unsere Gesellschaft steckt – und dass es sich für jede und jeden selbst lohnt, dieses Potenzial zu entwickeln. Dass in der sogenannten dritten Lebenshälfte die Chance steckt, noch Unausgelebtes Wirklichkeit werden zu lassen. Die glühenden Kohlen unter der Asche noch einmal zu entfachen, wie C. G. Jung sagt. Gleichzeitig sehe und erlebe ich, dass der Übergang in die dritte Lebensphase gar nicht so einfach ist. Schauen wir also etwas genauer hin, wie es denn gehen kann: die Chancen des Alters einzulösen, für uns selbst wie für die Gesellschaft.

Einfach machen – Sie hören die Betonung auf dem zweiten Wort: Wie befreiend kann es sein, einfach mal zu handeln, statt immer nur zu träumen, zu planen und damit vielleicht alles bis zum Sankt Nimmerleinstag aufzuschieben. Dazu gibt es im Internet schon einen eigenen Hashtag. „Heute das zweite Mal zum VHS-Kurs ‚Stimmtraining‘. Mein Kopf ist voll wirbelnder Gedanken – wie ich einfach nicht cool bleiben kann.  Ein Mix aus Vorfreude und Panik *haha“, schreibt @MemoAnMichSelbst auf Twitter. Und die Freude an diesem Neuanfang springt aus ihren Zeilen über. Da hat jemand den Traum ernst genommen und geerdet, bevor er wie eine Seifenblase platzt, und sich einfach mal bei der Volkshochschule angemeldet.

Einfach machen, dazu gehört auch die zweite Bedeutung: einfach machen, es uns manchmal weniger schwer machen. Träumt vielleicht jemand von einem – unbezahlbaren – Haus am Meer? Vielleicht wird schon etwas davon eingelöst mit regelmäßigen Aufenthalten in einer Ferienwohnung, von wo aus Sie ebenfalls Teil der Dorfcommunity werden können. Möchten Sie gern Ihre Erinnerungen aufschreiben, um sie Ihrer Familie zu hinterlassen, finden aber alles, was Ihnen in die Tasten fließt, banal und langweilig? Schließen Sie sich einer Schreibgruppe an, in der sich die Teilnehmenden gegenseitig Feedback geben, und lassen Sie sich inspirieren von den Texten der anderen.

So ging es mir selbst auch bei meinem letzten Übergang – von einer Stelle in der EKD in die Freiberuflichkeit. Der Übergang, die Kündigung wurde mir erstaunlich leicht gemacht – schlicht, weil mein Körper mir nicht mehr erlaubte, weiterzuarbeiten wie bisher.

Jetzt ist Zeit für Träume…

Wenn ich will, kann ich noch einmal etwas ganz Neues machen, dachte ich mir damals. Vielleicht ein Lokal eröffnen? Oder wenigstens einen literarischen Salon? Oder für eine Weile eine Aufgabe im Ausland übernehmen? Als ich für die Nahostarbeit der EKD zuständig war, war ich mir sicher, dass es spannend wäre, die letzten Berufsjahre im Ausland zu verbringen, in einer deutschen Gemeinde vielleicht, an einer deutschen Schule. Oder auf eine lange Reise gehen, Orte der Diakonie im In- und Ausland besuchen und über die Inspirationen schreiben, die mir dort begegnen? Viele Ideen habe ich erst einmal wieder verworfen, auch weil sie mich in ganz neue Strapazen gebracht hätten.

Ein anderer Wunsch wurde stärker. Mit Anfang 60 begann für mich die Zeit des Büchermachens. Den Schritt dahin habe ich mir auf gute Weise einfach gemacht: Für das größere Buch, das mir vor Augen stand, skizzierte ich zunächst viele kleine Mosaiksteine, die sich dann wie ein Puzzle zum Ganzen fügten. Dann kamen die vielen praktischen Seiten des Büchermachens dazu: Mit meiner Verlegerin und anderen Expert_innen galt es über passende Schrifttypen und Cover nachzudenken.
Ich dachte nach über Auflagen und Papier, stellte mir vor, wie mein Buch in den Buchhandlungen liegen würde. Wie ich bei Veranstaltungen Teile daraus lesen würde. Und meine Träume wurden Wirklichkeit. Es ist für mich eine große Erfüllung, meinen Gedanken und meiner eigenen Schreibstimme nachzuspüren und sie konkret werden zu lassen – in meinen eigenen Texten.

Anknüpfen und befreien

Älterwerden hält noch einmal neue Entwicklungs- und Veränderungschancen bereit. Was liegen geblieben ist, vergessen oder auch verdrängt wurde, kann nun aufgegriffen, angepackt, integriert werden.

Die Zeitschrift Psychologie heute hat im August 2016 eine Untersuchung zum Übergang in die dritte Lebensphase vorgelegt. Im Ergebnis zeigen sich drei Wege, den Neubeginn zu gestalten. Es gibt „die Weitermacher_innen“, die als Seniorberater_innen, Freiberufliche oder Honorarkräfte oder auch ehrenamtlich weiter in ihrem Arbeitsfeld unterwegs sind. Sie sind gefragt, solange sie nah genug dran bleiben an den innovativen Entwicklungen im Feld. Dann gibt es „die Anknüpfer_innen“, die aus ihren bisherigen Kompetenzen etwas Neues entwickeln. Wir kennen das von Sportkarrieren: vom Spieler zum Manager oder zum Sportartikelhersteller.

Und schließlich „die Befreiten“, die froh sind, endlich raus zu kommen aus einem Job, den sie als entfremdet erlebt haben. Sie finden ihr Glück vielleicht auf einer Reise, beim Lesen, bei der Gartenarbeit oder auch in einem Ehrenamt im Sportverein oder in der Hospizarbeit. Schreiben und Vorträge halten, Workshops leiten und Menschen beraten – bei der Gestaltung meiner Selbständigkeit in der dritten Lebensphase gehörte ich zu den „Anknüpferinnen“.

Wie gut der Übergang in die dritte Lebensphase gelingt, hängt auch davon ab, wie man oder frau vorher gelebt hat. „Wir wissen aus der Forschung, dass es wichtig ist, im Leben mehrere Dinge zu haben, für die man sich interessiert“, sagt die Altersforscherin Ursula Staudinger. „Wer sich aktiv bemüht, Veränderungen in der Welt mitzukriegen, wird den Anschluss nicht verlieren.“

Miuccia Prada entspricht keineswegs dem Bild einer allein dem Glamour verhafteten Modedesignerin. Sie hatte eine Ausbildung zur Schauspielerin und ein Studium der Politologie samt Promotion hinter sich, als sie als Inhaberin und Designerin in das Familienunternehmen einstieg. Sie kämpfte in der Kommunistischen Partei Italiens und in der Frauenbewegung in Mailand – viele Anknüpfungspunkte für ihr drittes Leben.

Aber auch in weniger schillernden Biografien finden sich viele Fäden, die noch weitergesponnen werden können oder aus denen sich etwas Neues entwickeln lässt. Frauen sind hier oft im Vorteil gegenüber Männern, denn vielfach mussten sie mehrere Leben miteinander verbinden, waren aktiv im Beruf und in der Familie, haben sich ehrenamtlich in die Elternarbeit in Kindergarten und Schule eingebracht, vielleicht im Stadtteil Hausaufgabenhilfe organisiert, sich um die Nachbarschaft gekümmert oder einen Lesekreis initiiert.

Vor allem Begegnungen scheinen mir wichtig zu sein: sich austauschen, nicht allein bleiben. Manche erleben das Älterwerden als persönliche Zumutung, sie haben das Gefühl, plötzlich unattraktiv und unsichtbar zu sein. Haben keine Lust mehr, sich einzumischen, keine Neugier auf das Leben mit all seinen Veränderungen. Da hilft es, sich mit Freund_innen zu treffen, mit Jüngeren und auch mit Älteren.
Und rausgehen hilft – raus aus den Träumereien, mitten hinein in die Wirklichkeit! Für mich bringt es Lisa Frohn auf den Punkt: „Wenn wir nicht allein bleiben und nicht nur privatisieren wollen“, schreibt sie in ihrem Twitter-Buch Ran ans Alter, „dann brauchen wir Räume, wo wir hingehen können. Um andere zu treffen. Um uns auszutauschen. Um gemeinsam etwas zu tun. Um uns als gesellschaftliche Wesen zu erleben.“

Nicht allein bleiben – vernetzen

Wir erleben gerade eine neue Frauenbewegung: die der älteren Frauen. Sie gehen selbstbewusst, kritisch und voll Energie in die neue Lebensphase und setzen sich noch einmal neu mit den alten Themen auseinander – mit dem Verständnis von Arbeit, mit Körper und Kleidung und natürlich mit dem Thema Mütterlichkeit. Im Internet tun sich Frauen zusammen, beispielsweise über die untereinander gut vernetzten Frauenblogs der Gruppe 55 plus. Da finden sich immer neue Versionen der sogenannten Löffel-Liste, auf der Frauen notieren, was sie noch vorhaben, was sie noch sehen, ausprobieren, umsetzen wollen.

Und auch Großmütternetzwerke sind en vogue. Viele sind jung, stehen mitten im Beruf, müssen mobil und flexibel sein und machen klare – und gerade darum oft besonders hilfreiche – Ansagen, an welchen Abenden sie auf die Enkelkinder aufpassen. Andere stecken früher als geplant mit der eigenen Berufstätigkeit zurück, um Töchter oder Schwiegertöchter zu unterstützen. Manche werden Wahlgroßmütter oder ehrenamtliche Teilzeit-Omas und Patinnen; vielleicht haben sie selbst keine Kinder, entdecken aber nun die Mutterschaft in einem umfassenderen Sinne. Oder sie organisieren sich, wie die „GroßmütterRevolution Schweiz“, um sich politisch einzumischen.

Die Kirche kann einiges tun, damit diese Potenziale auch für die Gesellschaft nützlich werden. Es wird darauf ankommen, dass die Gemeinden die Kraft zu Begegnung und Erneuerung, zu Respekt und wechselseitiger Sorge neu entdecken – nicht zuletzt in den diakonischen Aufgaben, die Frauen oft ehrenamtlich übernehmen. Dabei ist es wichtig, dass die Verantwortlichen der Kompetenz der jungen Alten vertrauen und ihnen Raum für ihre Ideen bieten – und natürlich Kostenerstattung, Fortbildung und Supervision anbieten.

Narrenfreiheit des Alters nutzen

Welche Kräfte hier stecken, wurde neulich bei einem großen ökumenischen Kongress in Osnabrück deutlich. Es ging um den Zugang von Frauen zu den Weiheämtern, der trotz einer jahrzehntelangen theologischen Auseinandersetzung noch immer strittig ist, vor allem in den katholischen und orthodoxen Kirchen.
In einem Bericht von Claudia Lücking-Michel, einer der Vizepräsidentinnen des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, über den Kongress heißt es: „Wir müssen uns noch besser organisieren, vernetzen und Verbündete suchen. Fragen wir nicht immer um Erlaubnis, suchen wir nach Ermöglichungen – und machen wir einfach! Alles ausreizen, was möglich ist, und bei dem, was (noch) unmöglich ist, zur Not Tabus brechen.“

Dabei lohnt es sich, die Narrenfreiheit des Alters zu nutzen. Als Jüngere, mit noch viel Zukunft vor uns, kann uns die Angst ausbremsen, dass ein allzu offenes Wort, ein authentisches Nein irgendwann negativ auf uns zurückfällt. Darüber müssen wir uns im höheren Alter keine Sorgen mehr machen. Wir können uns die Freiheit nehmen, einfach mal auszuprobieren, was noch nicht entschieden ist. Einfach machen und Zeichen setzen.

Das neue Leben beginnt nicht von selbst. Es braucht einen bewussten Entschluss. Man muss den Alltagstrott verlassen, die eigenen Routinen überprüfen. Dabei hilft es innezuhalten, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren, loszulassen, was war – und den eigenen Bildern und Hoffnungen zu trauen. Und dann einfach machen.

Weiterlesen
– Ingrid Riedel Die innere Freiheit des Alterns. 2010 Walter Verlag, Mannheim
– Petra-Angela Ahrens Uns geht´s gut. Gerneration 60plus: Religiosität und kirchliche Bindung. Protestantische Impulse für Gesellschaft und Kirche Band 11, hgg. von Gerhard Wegner für das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD, Berlin 2011
www.grossmuetter.ch  Anregendes für Frauen der Großmüttergeneration

Oberkirchenrätin a.D. Cornelia Coenen-Marx hat Evangelische Theologie und Germanistik studiert. Bevor die Pastorin und Autorin freiberuflich tätig wurde, hat sie über viele Jahre in Kirche und Diakonie gearbeitet, zuletzt als Leiterin des Referats Sozial- und Gesellschaftspolitik im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland. Mehr unter www.seele-und-sorge.de.

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit  60 min


Die Textzeilen des Gedichts Vierziger von Carola Moosbach liegen in der Mitte auf einzelnen Zetteln aus.

Einsteigen
Jede ist eingeladen, spontan eine Verszeile zu wählen, die für ihre momentane Lebensphase passt. Die Teilnehmerinnen stellen sich mit ihrem Vers kurz vor.

ins Gespräch kommen
Lesen Sie den Artikel gemeinsam, um – eventuell in Kleingruppen – über die Chancen der dritten Lebensphase ins Gespräch zu kommen.

Impuls   Würden Sie sich eher als Weitermacherin, als Anknüpferin oder als Befreite sehen? Stellen Sie sich im Raum auf, indem Sie sich spontan einem der drei Begriffe zuordnen. Tauschen Sie sich in Ihrer Gruppe kurz dazu aus.

Impuls   Setzen Sie sich in 3er bis 5er-Gruppen zusammen und geben Sie einander Anteil an Ihren Wunschträumen. Überlegen Sie gemeinsam, wie ein erster kleiner Schritt in diese Richtung aussehen könnte.

Gedanken nachhängen
Vielleicht macht es Ihnen Freude, einmal für sich zusammenzutragen, was Sie in Ihrem Leben schon alles getan haben? Papier und Stift können dabei helfen. Möglicherweise fällt Ihnen dabei auch ein, in welche Richtung es Sie weiterziehen würde.

politisch werden
Wie könnten Sie die Narrenfreiheit des Alters nutzen und auch für andere, jüngere Frauen Wege bahnen und Räume eröffnen?

bündeln
Jede_r notiert sich etwas, das sie/er in der nächsten Woche einfach mal machen will. Zur Gestaltung stehen schöne Papiere und Stifte bereit.

mitnehmen
Lesen Sie das Gedicht von Carola Moosbach gemeinsam – zeilenweise reihum.
von Simone Kluge

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