Ausgabe 2 / 2021 Artikel von Lý-Elisabeth Dang

Vielfältige Normalität und radikale Vielfalt

Müssen Gesellschaften harmonisch sein?

Von Lý-Elisabeth Dang

Eine reich gedeckte Tafel. Alle haben etwas mitgebracht, wenn nicht Essen, dann Appetit und Zeit. Wenn meine größere Familie in Berlin zusammenkommt, steht meist viel zu viel auf dem Tisch. Das ist nicht unbedingt etwas Besonderes bei Familienfeiern. Besonders ist vielleicht nur, dass die Rezepte einer vielfältigen
Normalität entsprechen. In meiner Berliner Familie ist es anders und doch ähnlich wie im französischen Film „Monsieur Claude und seine Töchter“. Meine weißen, deutschen Großeltern hatten drei Kinder. Jedes hat noch zu DDR-Zeiten eine Person aus dem Ausland geheiratet. Ein Kind wiederholte dies in seiner zweiten Ehe. Vielfältige Normalität. Voraussetzung war das offene, gastfreundliche Haus meiner Großeltern. Freunde und neue Bekanntschaften durften mitgebracht werden, auch zu Festtagen. Meine Oma, so wird erzählt, sorgte für eine Gesprächskultur, die respektvoll war und am jeweiligen Menschen interessiert. Inzwischen sind meine Großeltern verstorben und auf dem Grabstein steht: „Möge Gott das gute Werk seiner Hände nicht fahren lassen.“ Nun wirkt das Werk in uns fort.

Mir war lange nicht klar, dass wir in einer Art Blase, ein PoC-Safe-Space waren und sind. Jede*r kann sich in der großen Gesprächsrunde beteiligen, eine kleinere anfangen, spielen gehen, sich zurückziehen oder auch ein Schläfchen halten, je nachdem, was die Person braucht. So können wir viele, viele Stunden verbringen. Wenn am späten Abend dann Uno gespielt wird, geht es auf dem Tisch schnell und sehr laut her. Inzwischen hat die jüngere Generation das Heft übernommen, achtet auf die Einhaltung der Spielregeln, verteilt Strafkarten und gewinnt häufiger als die älteren.

Es ist normal, mehrere Sprachen zu hören, meist ist Deutsch die Hauptsprache. Es ist normal, dass nicht phänotypisch deutsch aussehende Menschen akzentfrei deutsch sprechen. Unsere Vor- und Nachnamen kamen mir normal vor in unserer Runde. Jetzt erst fangen wir an, über eigene Rassismuserfahrungen außerhalb zu sprechen.

Harmonisch ist es nicht zu jeder Zeit, vielleicht war es das nie. Da gibt es mal offenen, mal weniger offenen Streit. Da gibt es Uneinigkeiten. Da geht man sich aus dem Weg oder schweigt.
Radikale Vielfalt:
Müssen Gesellschaften harmonisiert werden?
Ja und nein. War unsere Gesellschaft früher harmonischer? Zu Kaisers Zeiten? Im Nationalsozialismus? – Als es noch zwei Deutschländer gab? Wollen wir das?

Nein, wenn Harmonisierung weitgehend als Homogenisierung oder Uniformität verstanden wird. Das Konzept der Radikalen Vielfalt1 erkennt die Verschiedenheit von Menschen an ohne sie zu abzuwerten. Nein zu einer sogenannten deutschen Leitkultur, hinter der sich das Ausgrenzen von Religionen bzw. Minderheiten versteckt.

Nein zu einer deutschen Leitkultur, die die Bratwurst, das Schnitzel, Bier, Sauerkraut mit Eisbein feiert und den Döner, Schawarma, Falafel, Pelmenis, die Pizza, Sushi oder „Ente kross“ abwertet.

Nein, wenn Harmonisierung auf Kosten der Menschenrechte geht oder den historischen Hintergrund und das antifaschistische Anliegen der Verfasser*innen unseres Grundgesetzes verdrängt.

Nein, wenn diese Harmonisierung die Existenz von Konflikten als Gefahr ansieht. Durch die Brille des Soziologen Aladin El-Mafaalani sind Konflikte Zeichen des Erfolgs einer offenen Gesellschaft, in der mehr Menschen mit am Tisch sitzen. Waren die Eltern dankbar, überhaupt im Raum sein zu dürfen, will die nächste Generation am Tisch mitmischen, fordert Chancengleichheit z.B. im Beruf und auf dem Wohnungsmarkt. Konflikte entstehen aufgrund von gelungener Integration: Das Integrationsparadox, so El-Mafaalani.2

Am Tisch geht es lebendig zu: Da sind die Frauen, die sich ihren Platz erkämpfen mussten. Da ist die LGBTQI+ -Community, die vor kurzem noch um die Ehe für alle gerungen hat. Diese Aushandlungsprozesse sind längst nicht beendet. Nun wurden Greta Thunberg und mit ihr die Jugend laut am Tisch. Sie fordern eine unversehrte Zukunft für sich, sowie den globalen Raum, in dem der globale Tisch steht.

Nach El-Mafaalani passt selbst die erstarkte Rechte in das Integrationsparadox, als Gegenbewegung einer offenen Gesellschaft. Gleichwohl ist sie eine höchst ernstzunehmende Gefahr für unsere Demokratie und wie ein Déjà-Vu. Vor 100 Jahren hat man die Demokratiefeindlichkeit und die Schlagkraft der Nationalsozialisten unterschätzt. Der NSU, Halle, Hanau, die rechten, rassistischen oder antisemitischen Gewalttaten jährlich im vierstelligen Bereich zeigen: Jetzt und hier läuft mächtig was aus der Bahn. Wie über Minderheiten berichtet wird, welche Gefahr das erzeugt, welche Taten das befördert. Wo ist der Widerstand? 2033 ist nicht weit weg. Was soll bis dahin noch alles passieren? Fuck – ich habe Angst.

Wir brauchen keine Harmonisierung, wir brauchen den Rechtsstaat und eine antirassistische Polizei, die die Vulnerablen dieses Landes schützt und die Grenzen des Rechtstaates erhält. Wir brauchen eine wehrhafte Demokratie.

Eine, die Ja sagt zur postmigrantischen Gesellschaft. Normalität ist vielfältige Normalität. Deutschland ist schon seit Generationen ein Einwanderungsland und hat zugleich erhebliche Auswanderung zu verzeichnen. Ja zur Harmonisierung, wenn damit ein Streben, ein Ringen, eine Praxis für mehr soziale Gerechtigkeit gemeint ist.

Ja zu einer Demokratie der verschiedenen Perspektiven am Tisch und zum bunten Gerichte-Mix. Den Einheitsbrei haben wir schon ausprobiert. Er schmeckt auf Dauer nicht und gibt Anlass zum Erbrechen.

Vielfältige Normalität am Tisch Jesu
„Und es werden kommen von Osten und vom Westen, von Norden und Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes.“ (Lk 13,29)

Ob WIR selbst dabei sind, ist die Frage. Sind wir offen dafür, JETZT den Tisch und auch das Leben zu teilen? Tun wir aktiv etwas dafür? Jesus ist deutlich. Wer mit ihm zu tun haben will, fängt ein neues Leben an: An seinem Tisch sitzen Menschen aus allen Völkern. Und uns, die wir uns oft für die ersten oder zumindest zweiten halten, wird gesagt: „Und siehe, es sind Letzte, die werden die Ersten sein, und sind Erste, die werden die Letzten sein.“ (Lk 13,30) Wir sind zumindest noch dabei.

Es ist ein langer Weg hin zu einer bewusst inklusiven, antirassistischen Kirche, in der die vielfältige Gesellschaft, die sie schon längst umgibt, wiederzufinden ist. Vielfältige Normalität am Tisch Jesu. Damit vielfältige Normalität in deutschen Landeskirchen erlebbar sein wird, braucht es auch vielfältige Normalität in der Stellenbesetzung. „What you can’t see, you can’t be.“ Was du nicht sehen kannst, kannst du nicht werden. Mehrsprachigkeit, verschiedene Perspektiven und Erfahrungen sind eine Bereicherung.

Andere Kirchen auf diesem Lernweg können Mut machen. Die United Church of Christ hat Leitsätze wie: Setze keinen Punkt, wo Gott ein Komma gesetzt hat. – Gott redet immer noch. Egal, wer du bist und wo du auf deiner Lebensreise bist, du bist willkommen hier. Dieser Transformationsweg, die Umkehr, kommt nicht aus ohne zwei wichtige Elemente der Healing of Memory-Gespräche: Buße und Reparationen. Als Nachfahr*innen ist es an uns, Verantwortung für die Gegenwart zu übernehmen.

Wie wäre es, wenn Kirche ihre Privilegien teilt und abgibt? Wenn ausländische Qualifikationen nach transparenten Kriterien Anerkennung fänden, eben wie deutsche? Wenn Gebäude und Land an Menschen gegeben würden, die
Sozialkapital bewusst in und für Nachbarschaft einsetzen, ungenutzte Friedhofsflächen gingen an andere Religionsgemeinschaften? Besitzverwaltung braucht sehr viel Zeit und Personal. Weniger Besitz macht beweglicher und Energie wird frei für das Wesentliche, die Anliegen Jesu.

Im letzten Jahr hat sich in der EKBO eine Gruppe gebildet, die eine antirassistische Organisationsentwicklung der EKBO anstrebt. Darin sind Vertreter*innen aus der Evangelischen Akademie, Diakonie, Flüchtlingskirche, des AKD, von Phönix e.V. und Mitarbeitende aus der EKBO. In einem Glaubenskurs werden die „Sacred Conversations to end Racism“ der UCC in den deutschen Kontext übertragen. Zwei Testgespräche fanden bereits statt. Bundesweit beginnt eine BIPoC-Vernetzung von Menschen, die im Raum der Kirche arbeiten. Zum Anlass des Internationalen
Tags gegen Rassismus entstand daraus ein Kooperationsprojekt, ein gemeinsamer Gottesdienst, der zu einem Perspektivwechsel einlud und weitere Vernetzung beförderte.3 Ein im Sommer 2020 tausendfach geteilter Tweet führte zu zeitnahen Gesprächen mit Bischof Stäblein und zeigt: Die Arbeit in der Öffentlichkeit wirkt nach innen.

Noch sind die Tische in den Landeskirchen weiß dominiert. Eine Tischgemeinschaft, die der postmigrantischen Gesellschaft entspricht, steht noch aus. Hier und da ist sie schon erlebbar, aber noch sitzen wir getrennt an mehreren Tischen. Dabei geht unseren Kirchen so viel verloren. Ich höre nicht auf, von der vielfältigen Normalität am Tisch Jesu zu träumen. Es schmeckt sicher großartig.

Anmerkungen
1) Der Begriff „Radikale Vielfalt“ wurde vom Institut für Social Justice and Radical Diversity (u.a. Leah Czollek, Gudrun Perko, Corinne Caszner, Max Czollek) geprägt. Mark Terkessidis verwendet „Vielheit“, um dem viel verwendeten Begriff „Vielfalt“ zu entgehen.
2) Vgl. Aladin El-Mafaalani, Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, Köln 2020.

3 Bei YouTube zu finden unter „BIPoC Gottesdienst VEM“.

Für die Arbeit in der Gruppe

Zeit / unbestimmt

Für den Einstieg lesen die TN den Artikel in drei Abschnitten und besprechen diese
je anhand folgender Fragen: [ circa 45 min]

Was klingt in mir nach?
Wie sieht es mit der vielfältigen Normalität in meinem Alltag aus?
Wie sieht es mit der vielfältigen Normalität in meiner Kirchengemeinde aus?

Rausaufgabe, inspiriert von der „Mahloquet“ – ein dialogisches Streitgespräch und zugleich eine Haltung: „Die Mahloquet fokussiert auf das noch nicht Gewusste, die Einsicht in etwas Neues. Das Gegenüber wird dabei nicht als Spiegelung der eigenen Erfahrungen, nicht als alter ego benutzt. Die dialogische Methode wendet sich gegen Monologe, durch die Andere von der ‚einzig richtigen‘ Haltung überzeugt werden sollen.“

Ziel eines solchen Gespräches ist es, „jeden Menschen als Teil dieser Welt zu sehen, der etwas beitragen kann, die Perspektiven der jeweils anderen zu erweitern.“

Mahloquet im Kiez/Lebens-/Arbeitsort [ circa 90 min]

Bitten Sie einen Menschen um ein Gespräch. Einen, den Sie von sich verschieden lesen (z.B. in Alter, Geschlecht, Religion, Milieu). Vielleicht eine Nachbarin oder eine Arbeitskollegin, eine jugendliche Person. Sie können dabei spazieren, auf einer Bank sitzen oder gemeinsam essen. Die folgenden Fragen sind Anregungen und können individuell abgestimmt werden.

Was lässt Sie jeden Morgen aufstehen?
Was ist Ihnen mehr als wichtig im Leben?
Was macht Ihnen Angst/Sorge im Leben?
Fühlen Sie sich sicher in diesem Land/diesem Kiez?
Was braucht aus Ihrer Sicht dieser Ort hier, um lebenswert/er zu sein?

Ein Gebetsspaziergang in der Nachbarschaft [ circa 30 – 90  min]

Auch ein Gespräch mit Gott ist möglich. In Gedanken. Hörend gehen. Und dann ?für die Menschen der Nachbarschaft beten und um Segen bitten.

Zur Auswertung tauschen sich die TN am verabredeten Termin im Kreis über ihre Erfahrungen und Entdeckungen aus – bewusst im Mahloquetmodus.
[ circa 45 – 60   min]

Entwickelt für Arbeit des Radical Diversity und Social Justice-Trainings. Leah Carola Czollek, Gudrun Perko, Corinne Kaszner, Max Czollek, Praxishandbuch Social Justice und Diversity, Basel 2019, S. 51, S. 216.

Lý-Elisabeth Dang ist als PoC und als Mutter von zwei Kindern engagiert in der Antira-EKBO-Gruppe sowie Pfarrerin im Projekt „Missionarischer Erprobungsraum“ im Niederer Fläming-Dahme/ Mark-Dahmetal, EKBO.

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