Ausgabe 2 / 2021 Andacht von Kerstin Söderblom

Weihnachtsandacht im Zwischenraum

Von Kerstin Söderblom

Votum
Wir feiern diesen Gottesdienst

im Namen des dreieinigen Gottes,
Quelle des Lebens,
Grund der Vergebung,
Kraft der Liebe,

Amen
Gebet
Barmherziger Gott,

sei an diesem Weihnachtsfest
in unserer Mitte.
Wo auch immer wir sind.
öffne unsere Augen, Ohren
und Herzen für
deine Zeichen und Worte,

Amen
Schriftlesung Joh 6, 37:
„Alle, die mir Gott gibt, werden zu mir kommen, und die zu mir Kommenden werde ich nicht hinauswerfen.“ (BigS)
Predigtmeditation
Wer ist drinnen und wer draußen?
Wer wird hinausgeworfen? Wer war nie drinnen?
Das sind existenzielle Fragen.

Im Johannesevangelium heißt es: Diejenigen, die Gott schickt, kommen auch zu Jesus. Und diejenigen die zu Jesus kommen, werden nicht hinausgeworfen. Klingt einfach. Ist es aber nicht. Es gibt Eingangsbestimmungen, Tickets, QR Codes. Nichts geht ohne Zugangsberechtigung. Einmal vorzeigen bitte, danke, durchgehen. Halt! Stopp! Sie kommen hier nicht rein! Warum nicht? Sie gehören nicht dazu. Kriterien? Undurchsichtig. Willkürlich. Unklar. Drinnen und draußen. Sicher und beschützt oder unsicher und verwundbar? Dazugehören oder fremdsein, nicht am öffentlichen Leben teilnehmen dürfen.

Eine Studentin aus Brasilien erzählte mir in der Sprechstunde:
„Ob ich dazugehören kann, bestimmen die anderen. Sie überprüfen, woher ich komme, welche Sprache ich spreche, welchen Akzent ich habe, wie dunkel meine Hautfarbe ist, ob ich alle Regeln einhalte oder nicht. Für mich sind diese Regeln und Normen unsichtbar. Trotzdem muss ich sie einhalten, wenn ich dabei sein möchte.

Aber der Preis dafür ist hoch!“

Wer drinnen ist, scheint sicher zu sein.
Oder eher eingeschlossen?
Wer draußen ist, ist anders. Aber frei?
Heimat oder Gefängnis? Zugehörig oder abgegrenzt?
Eingeschlossen oder Ausgeschlossen?

Was ist das für ein Schutzraum,
wenn er anderen Zuflucht und Schutz verwehrt?
Was ist das für ein Schutzraum, wenn er die einen einschließt und andere ausgrenzt?

Zuflucht in Not und Bedrängnis kann Leben retten. Sicherheit, ein Dach überm Kopf, etwas zu Essen, Wärme. Es sind Fundamente menschlichen Lebens, aller Menschen. Manchen werden sie verwehrt.

Angehörige von Minderheiten werden als anders gelesen. Deshalb gehören sie angeblich nicht dazu: Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Intersexuelle erleben vielerorts Häme, Abwertung und Ausgrenzung. Wollen sie immer dazugehören?

Nein danke, bloß nicht!
Drin bekomme ich keine Luft!
Drin muss ich mich zu sehr verbiegen!
Ich bleibe bewusst draußen!

Denn mittlerweile können viele von ihnen ihre eigenen sicheren Orte gestalten und ihr Leben selbstbestimmt leben.
Aber andere können das nicht: Menschen, die aus politischen oder religiösen Gründen auf der Flucht sind. Menschen, die alles verloren haben. Menschen, die nicht alles verlieren wollen. Millionen Menschen sind auf der Flucht. Zu Fuß, im Boot, im Bus, im Zug, im Flugzeug. Geflohen vor Krieg, Gewalt, Zerstörung ihrer Heimat und ihrer Lebensgrundlage, Vergewaltigung, Gefängnis, Erniedrigung, Diskriminierung, Hunger…

Ihnen fehlt Schutz und ein Dach überm Kopf. Sie werden nicht reingelassen. Sie gehören nicht dazu. Geflüchtete sind abhängig von Menschen, Organisationen, Staaten, die ihre Gesellschaft öffnen und ihnen Zuflucht bieten, die ihnen helfen und Perspektiven ermöglichen.

Unzählige Grenzübergänge und Türen sind zu. Zäune werden gezogen, Mauern gebaut. Schutzsuchende werden misstrauisch beäugt, kriminalisiert, stigmatisiert.
Wir sind voll! Wir können nicht! Wir wollen nicht! Es ist zu gefährlich!
Wir sind voll! Wir können nicht! Wir wollen nicht! Es ist zu gefährlich!

Es gibt auch andere Stimmen:
Wir schaffen das, und wir machen das!
Tausende solidarisieren sich seit Jahren mit Geflüchteten. Sie handeln respektvoll, bieten Zuflucht, Zugehörigkeit und Unterstützung: Schule für Kinder, Begleitung bei Behördengängen, Wohnungen, unbürokratische Jobs, freundliche Nachbarschaft.

Sicherheit und Respekt retten Leben.
So steht es auch im Johannesevangelium.
Gott ist da und nimmt auf.
Gott wirft nicht hinaus.
Gott nimmt Bedrängte und in Not Geratene unter seine Fittiche.

Wie? Durch Menschen. Durch Menschen, die da sind und helfen. Menschen, die sich für Zugehörigkeit statt Ausgrenzung einsetzen.
Genau das ist die Weihnachtsbotschaft: Maria und Josef hatten keine Bleibe, als sie in Bethlehem ankamen. Niemand ließ sie ein. Jesus wurde draußen vor den Toren der Stadt geboren. Nur die Hirten waren da und wurden Zeugen einer besonderen Nacht. Gott kam als Kind Geflüchteter auf die Welt. Ohne festen Wohnsitz. Im Niemandsland.
Im Zwischenraum.

Kurz nach der Geburt mussten Maria und Josef mit ihrem Neugeborenen nach Ägypten fliehen. Denn König Herodes ließ alle neugeborenen Jungen ermorden aus Angst vor Machtverlust durch die Geburt eines neuen Königs: Gottes Sohn. Jesu Leben begann mit Morddrohung und Flucht. Maria, Josef und Jesus blieben versteckt im Zwischenraum. Sie waren unterwegs abhängig von Menschen, die ihnen Zuflucht gaben.
Im Stall. Auf dem Weg. Auf der Flucht. So wie Geflüchtete heute.

Nicht drinnen, nicht draußen. Sondern zwischendrin auf dem Weg.
Ihnen gilt der Zuspruch:
Wer zu Gott kommt, wird nicht herausgeworfen!
Zwischendrin und auf dem Weg ist Gottes Schutzraum aufgespannt.
Unabhängig von Mauern und Grenzen.
Unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Religionszugehörigkeit.
Unabhängig von Alter, Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung.
Gott ist da und bleibt da.
Mit den Menschen auf dem Weg.

Amen
Irischer Segen
Gott gebe dir
für jeden Sturm einen Regenbogen,
für jede Träne ein Lachen,
für jede Sorge eine Aussicht, und eine Hilfe in jeder Schwierigkeit,
für jedes Problem, das das Leben schickt,
einen Menschen, es zu teilen,
für jeden Seufzer ein Lied
und eine Antwort auf jedes Gebet.

Dr. Kerstin Söderblom ist Hochschulpfarrerin an der ESG in Mainz, Supervisorin und Coach. Ihre Schwerpunkte sind Queer Theology, empirische Theologie und interkulturelle Seelsorge.

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