Ausgabe 2 / 2019 Artikel von Carola Moosbach

Schwere Schritte

Gutes Leben gleich gesundes Leben?

Von Carola Moosbach

Mein Weg zum nächsten Supermarkt ist nicht weit, fünfhundert Meter vielleicht. An schlechten Tagen fühlen sich diese fünfhundert Meter trotzdem an wie ein Langstreckenlauf. Mühsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Dabei achte ich darauf, meinen Oberkörper so weit stabil zu halten, dass eine Wendung nach links oder rechts mich nicht aus dem Gleichgewicht bringt.

Um nicht zu stolpern, bin ich gezwungen, mich ganz auf das Gehen zu konzentrieren. Mit gesenktem Kopf behalte ich meine Füße stets im Blick. Die Kraft in den Beinen lässt trotz aller Umsicht dennoch schneller nach als mir lieb ist. Nach etwa hundert Metern beginnt der linke Fuß über die Erde zu schleifen. 80-Jährige überholen mich. Wie anstrengend es sein kann, einen Fuß vor den anderen zu setzen! Glücklicherweise liegen eine Apotheke, ein Café und ein Friseur auf meinem Einkaufsweg. Dort kennt man mich und bietet mir bei Bedarf einen Sitzplatz zum Ausruhen an.

Meinen ersten Stock habe ich nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Sanitätshaus geholt. Ich rechnete mir gute Chancen aus, auf diese Weise zumindest beim ersten Mal ungesehen nach Hause zu kommen. Die Rechnung ging nicht auf. Gleich zwei Nachbarinnen begegneten mir auf dem Rückweg. Zu meiner Erleichterung glitt ihr Blick aber über den Stock hinweg, als sähen sie ihn nicht. Andere sehen ihn dafür umso besser. Wer mir entgegenkommt, macht jetzt einen weiten Bogen um mich. Autos halten sofort an, wenn ich in dem mir eigenen Schneckentempo die Straße überquere. Auch mein leicht schwankender Gang führt nun nicht mehr zu Missverständnissen. Der Stock ist Erklärung und Rechtfertigung zugleich. Ich bin froh, dass ich ihn habe.

Nur in meinen Träumen vergesse oder verliere ich ihn bei jeder Gelegenheit. Wie eine Zwanzigjährige schwinge ich mich dann auf mein Fahrrad, trete mit der Kraft meiner gesunden Beine in die Pedale und genieße den Fahrtwind. Ein oder zwei Jahre nach dem Stock kam ein Rollator dazu. Ihn zu benutzen kostet mich noch immer Überwindung. Ich bin damit nicht alleine. In vielen Kellern stehen nie benutzte Stöcke, Rollatoren und Rollstühle, die von fürsorglichen Angehörigen herbeigeschafft wurden. Eine meiner Nachbarinnen hat in den Jahren vor ihrem Tod kaum noch die Wohnung verlassen, weil das ohne Gehhilfe nicht mehr möglich war. Die Scham war offenbar zu groß. Oder der Stolz? Dabei ist so ein Rollator ungemein hilfreich, wie alle – und nicht zuletzt ich selbst – mir immer wieder versichern. An den Griffen finden die Hände sicheren Halt und stabilisieren dadurch den wankelmütigen Rumpf. Ich kann wieder mit erhobenem Kopf durch die Straßen gehen und nach Belieben Schaufenster betrachten. Die Einkäufe finden praktischerweise gleich im vorgelagerten Netz Platz. Überkommt meine Beine eine plötzliche Schwäche, habe ich den Sitzplatz zum Ausruhen gleich dabei. Und so wage ich mich auch in unbekanntes Gelände, wo ich weder von einer Parkbank im richtigen Moment noch von hilfsbereiten Ladenbesitzern ausgehen kann. Warum ist mir der Rollator trotzdem peinlich?

Seit 19 Jahren habe ich Multiple Sklerose – eine unheilbare Krankheit, deren Ursache bisher im Dunkeln liegt. Die Möglichkeiten der Behandlung sind entsprechend überschaubar. Außer regelmäßiger Krankengymnastik und Medikamenten von zweifelhafter Wirkung gibt es nicht viel. Mag auch die Medizin in der Erforschung der MS noch keinen Durchbruch erzielt haben, andere wissen dafür umso besser Bescheid.

„Wer falsch lebt, wird irgendwann krank“, verkündete erst neulich eine Bekannte im Brustton der Überzeugung. Im Umkehrschluss hieße das: Wer krank wird, hat etwas falsch gemacht. Ungesund gegessen, zu wenig meditiert oder gebetet, durch Untaten in einem früheren Leben ein schlechtes Karma auf sich gezogen. In einem Bericht über eine Blindenschule in Tibet war zu sehen, wie Passanten die blinden Kinder an-spuckten und beschimpften. Auch in unseren Breiten ist es noch nicht lange her, dass Krankheit als Strafe Gottes angesehen wurde.

Es muss ein schönes Gefühl für die Gesunden sein, die eigene moralische Überlegenheit durch einen bestens funktionierenden Körper beglaubigt zu sehen. Doch auch für uns Kranke gibt es Hoffnung. Werden die schlechten Gewohnheiten, die ungesunde Ernährung, das negative Denken aufgegeben, lässt auch die Heilung nicht lange auf sich warten. Eine ganze Industrie von Ernährungsberaterinnen, Geistheilern, Heilpraktikerinnen und Schamanen lebt von der Angst und Verzweiflung unheilbar Kranker. Und auch manch evangelikale Sekte mischt mit ihren „Heilungsgottesdiensten“ auf dem Markt der Illusionen kräftig mit. Tritt der gewünschte Erfolg nicht ein, liegt es nie an den Anbietern, sondern immer an den Kranken selbst. Wer sich solch magischem Wunschdenken verweigert, wer die kaum noch überschaubare Zahl der Angebote kritisch prüft oder gar Beweise einfordert, will womöglich gar nicht gesund werden?

Ich selbst habe Gott noch nie um Heilung gebeten. Ich glaube nämlich nicht an Wunder, jedenfalls nicht an solche. Für mich ist Gott keine allmächtige Instanz, die nach undurchsichtigen Kriterien aus der Höhe heraus Schicksale verteilt. Und wo bliebe die Gerechtigkeit, wenn ausgerechnet ich gesund würde, während eine junge Frau ihr Leben im Pflegebett verbringen muss oder ein Dreijähriger an Krebs stirbt? Solche Art der Willkürherrschaft würden wir einem weltlichen Herrscher niemals durchgehen lassen. Einem göttlichen aber schon? Oder kommt es allein auf den Glauben an, so dass die besonders Frommen auf eine Vorzugsbehandlung rechnen dürfen? Es sieht nicht danach aus. Auch Gläubige werden unheilbar krank, auch noch so Fromme können Opfer eines Verbrechens werden oder durch einen Autounfall ums Leben kommen. Wer sich in diesem Punkt etwas vormacht, wird im Moment der Katastrophe sehr unsanft aus allen Wolken fallen.

Ich weigere mich zu glauben, dass meine Erkrankung von Gott geschickt wurde, womöglich gar in erzieherischer Absicht. Was wäre das für eine abscheuliche Pädagogik. Krankheiten gehören zum Leben, warum auch immer. Man sollte es nicht persönlich nehmen, wenn es einen trifft. Und einen Weg finden, jenseits von Trauer, Angst und Wut seinen Frieden mit dem Unabänderlichen zu machen. Wenn das nur so einfach wäre!

Die sogenannten Heilungswunder der Bibel sind mir auf diesem Weg leider keine große Hilfe. Besonders ärgerlich finde ich es, wenn darin ein Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde behauptet wird. Zum Beispiel in der Geschichte von der Heilung des Gelähmten [ Mk 2,1-12 ]. Nachdem der Gelähmte durch das abgedeckte Dach heruntergelassen wurde, spricht Jesus ihn an: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ Die Bibel in gerechter Sprache macht aus der Sünde ein „unrechtes Tun“, aber das macht es auch nicht besser. Die Lähmung wird in beiden Fällen als Folge eigener Schuld dargestellt.

Schade, dass wir nicht erfahren, wie der Gelähmte selbst darüber denkt. Ob er sich schämte, weil er in aller Öffentlichkeit als Sünder hingestellt wurde? Oder hat er die Demütigung stillschweigend geschluckt, um seine Chance auf Heilung nicht zu verspielen? Wir wissen es nicht. Der Gelähmte bleibt stumm. Während die Umstehenden über seinen Kopf hinweg erst einmal theologisch fachsimpeln, liegt er hilflos vor ihnen. Womöglich wird er neugierig, vielleicht sogar verächtlich angestarrt. Kein Wunder, dass der schließlich Geheilte wortlos sein Bett nimmt und so schnell wie möglich verschwindet. Nicht einmal ein Wort des Dankes ist überliefert.

Auch heute noch erleben viele Kranke und Behinderte die „Umstehenden“, die Angehörigen, Freunde und Kolleginnen als wenig hilfreich. Da wären zunächst die vielen gut gemeinten, aber nutzlosen Ratschläge. Irgendwer hat immer etwas im Internet oder in einer Illustrierten gelesen. Da hat sich eine junge MS-Kranke mit eisernem Willen aus ihrem Rollstuhl wieder heraus gekämpft; inzwischen trainiert sie für den Marathon. Ein anderer hat nach der Diagnose seine Ernährung radikal umgestellt und fühlt sich seitdem wie neu geboren. Es scheint fast, als müssten die Erkrankten ihre vermeintlich falsche Lebensweise nun durch umso stärkeren Einsatz abbüßen. Man muss eben nur wollen, ist die unterschwellige Botschaft solcher Geschichten.

Dass es auch im 21. Jahrhundert noch Krankheiten und Behinderungen gibt, die nur schlecht oder gar nicht behandelbar sind, scheint ein unerträglicher Angriff auf den herrschenden Machbarkeitswahn zu sein. Das sich selbst absolut setzende Ich fürchtet nichts mehr als die eigene Schwäche und das Angewiesensein auf andere. Was aber, wenn aus dem Zwang zur Selbstoptimierung eine chronische Erschöpfung, aus dem täglichen Dauerlauf ein mühsames sich Dahinschleppen, aus der ausgeklügelten Work-Life-Balance eine Frührentner*innen-Existenz am Rande der Gesellschaft wird? Für die meisten Menschen käme das einem Albtraum gleich. „Lieber reich und gesund als arm und krank“ posaunen die Motivationstrainer in die Welt und liefern die Rezepte für ein Leben auf der Überholspur gleich mit. Mit solcher Hybris hält man sich die Angst vom Leib und die Kranken außer Sichtweite. Denn als wandelnde Fragezeichen erinnern wir die Gesunden daran, dass jederzeit alles passieren kann. Auch ihnen.

Nach dem Einkaufen bin ich so erschöpft, dass ich mich eine Weile ausruhen muss. Wenn das Wetter es zulässt, setze ich mich dann auf meinen Balkon und schaue den Wolken nach. Manchmal gerate ich dabei ins Träumen. Wie gerne würde ich noch einmal das Meer sehen, noch einmal den warmen Sand unter den Füßen spüren, noch einmal mit dem Fahrrad über den Deich fahren. Stattdessen wird die Liste der Verluste von Jahr zu Jahr länger. Werde ich mir schon bald den Rollator zurückwünschen, weil ich einen Rollstuhl brauche? Hoffnung auf Heilung habe ich nicht. Wohl aber die Zuversicht, nicht alleine gelassen zu werden in meiner Schwäche. Ich werde nicht untergehen. Als es zu dämmern beginnt, sitze ich immer noch da. Frieden breitet sich aus. Ich atme Glück ein und Stille. Kostbares Leben.
Carola Moosbach ist Juristin, kann aus gesundheitlichen Gründen aber nicht in ihrem Beruf arbeiten. Sie hat Gedichtbände mit religiöser Lyrik veröffentlicht – zuletzt „Bereitet die Wege. Poetische Kommentare zu Bachs Kantaten“ – und eben die Arbeit an einem historisch-biografischen Roman über „Bachs Töchter“ abgeschlossen. www.carola-moosbach.de

Für die Arbeit in der Gruppe


von Christine Rudershausen
Zeit 60-75 min
Wir sind zum Buchstabieren eingeladen. In wechselnden Perspektiven werden wir schauen, was es heißt: das „gute Leben“ für uns und andere. Dabei werden wir auf uns selbst blicken: auf unsere Haltung, unsere Wertvorstellungen, auf das, was im Leben (für uns) wirklich wichtig ist. Und wir werden darüber nachdenken, warum das gute Leben nicht für alle gleich aussieht.

Einsteigen I
Gruppen, die gern tanzen, stimmen sich ein mit dem Ulmentanz von Anastasia Geng: Sie sind eingeladen, im Vor- und Rückwärtsgehen auf Ihr Leben „zu schauen“ – auf das Vergangene, auf das, was ist und was kommen mag. Im kreisenden Innehalten können wir uns dessen bewusst werden, was uns im Leben wichtig ist.

Einsteigen II
Ich habe für jede von Ihnen ein ABC-Blatt mitgebracht und lade Sie ein, es einmal für sich zu füllen mit dem, was für Sie zum guten Leben gehört. Zum Beispiel: Abenteuer, Beziehungen, Chancengleichheit und so weiter. Es können beliebige Worte, Eigenschaften, Tätigkeiten, Erfahrungen, Werte und vieles mehr sein. [ circa 10 Minuten ]

Austauschen

Bei welchem Buchstaben ist Ihnen etwas zum guten Leben eingefallen, das Ihnen schon immer ganz besonders wichtig war? Oder auch etwas, das Sie jetzt selbst überrascht hat?  [ circa 10 Minuten ]

Überleiten
„Hauptsache gesund!“ Für viele gehört das „selbstverständlich“ als Wichtigstes zu einem guten Leben dazu. Auch biblische Heilsverheißungen und Erzählungen von Wunderheilungen weisen, jedenfalls auf den ersten Blick, in diese Richtung: „Blinde sehen, Lahme gehen…“

Aber ist das wirklich so eindeutig? Ist ein „gutes Leben“ für kranke Menschen oder Menschen mit Behinderungen nur nach und durch „Heilung“ möglich? Und umgekehrt gefragt: Gibt es also für „unheilbar“ kranke Menschen oder Menschen mit Behinderungen keine Chance auf ein gutes Leben?

Die Autorin Carola Moosbach ist selbst unheilbar an Multipler Sklerose erkrankt und zunehmend daran gehindert, an bestimmten Bereichen des Lebens teilzunehmen. So wird etwa ihre Sehnsucht, noch einmal ans Meer zu fahren und den Sand unter den nackten Füßen zu spüren, wohl unerfüllt bleiben. Dennoch – oder vielleicht auch gerade deswegen – zeichnet sie uns kräftige Widerhaken in das allzu glatte Bild vom „guten Leben“, das wir uns oft nur als „gesundes“ Leben vorstellen können.

Lesen und Nachdenken
Textauszüge je 4-5 Mal kopieren und auf einzelnen Tischen oder am Rand einer Tischgruppe auslegen

Meinen ersten Stock habe ich nach Einbruch der Dunkelheit aus dem Sanitätshaus geholt. Ich rechnete mir gute Chancen aus, auf diese Weise zumindest beim ersten Mal ungesehen nach Hause zu kommen. … bis: Warum ist mir der Rollator trotzdem peinlich?

„Wer falsch lebt, wird irgendwann krank“, verkündete erst neulich eine Bekannte im Brustton der Überzeugung.  Im Umkehrschluss hieße das: Wer krank wird, hat etwas falsch gemacht. … bis: will womöglich gar nicht gesund werden?

Ich selbst habe Gott noch nie um Heilung gebeten. Ich glaube nämlich nicht an Wunder, jedenfalls nicht an solche. … bis: seinen Frieden mit dem Unabänderlichen zu machen. Wenn das nur so einfach wäre!


Die sogenannten Heilungswunder der Bibel sind mir auf diesem Weg leider keine große Hilfe. Besonders ärgerlich finde ich es, wenn darin ein Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünde behauptet wird. … bis: Nicht einmal ein Wort des Dankes ist überliefert.


Auch heute noch erleben viele Kranke und Behinderte die „Umstehenden“, die Angehörigen, Freunde und Kolleginnen als wenig hilfreich. Da wären zunächst die vielen gut gemeinten, aber nutzlosen Ratschläge … bis: erinnern wir die Gesunden daran, dass jederzeit alles passieren kann. Auch ihnen.

Gehen Sie zunächst in Stille umher – schauen Sie, welcher von den Texten Sie besonders „anspricht“. Nehmen Sie eine Kopie dieses Textes und lesen Sie ihn in aller Ruhe durch.  [ circa 20 Minuten ]

Erzählen Sie einander (kurz) von der Frage, dem Gedanken, die oder der Sie jetzt besonders bewegt. [ circa 10 Minuten ]

Austauschen
„Hauptsache gesund“? – Hat sich durch das Lesen und Nachdenken für Sie etwas verändert? Welche Frage, welchen Gedanken, welche Einsicht nehmen Sie heute mit nach Hause?  [ circa 10 Minuten ]

Noch einmal hören

Carola Moosbach schließt Ihren Artikel so ab: „Nach dem Einkaufen …“ – letzten Absatz vorlesen, kurze Stille

Segnen

Ich wünsche dir Segen am eigenen Ort
dort wo du du bist
wo du sein kannst
wie du bist
werden kannst
wie du sein magst
wie du werden willst
weil Gott dich geschaffen hat
einzigartig
als Original
als Abbild Gottes
Du kannst Gottes Antlitz auf deinem Gesicht tragen.
Du kannst die Welt zum Leuchten bringen.

Christine Rudershausen ist ausgebildete Buchhändlerin, feministische Theologin und seit langer Zeit in Pastoral und Lebensbegleitung tätig. Als Bibliodramaleiterin (GfB) und Bibliologin, liturgische Tanzfrau und Referentin für Frauenspiritualität ist sie oft ökumenisch unterwegs, auch als Delegierte für baf (bund alt-katholischer frauen) im deutschen WGT Komitee und im Team der Ökumenischen Bundeswerkstätten.

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