Ausgabe 2 / 2020 Frauen in Bewegung von Cornelia Coenen-Marx

Zur Nächstenliebe geboren?

Empathische Pflege hat kein Geschlecht

Von Cornelia Coenen-Marx

„Einer der schönsten Frauenberufe (wenn man denn überhaupt diese Arbeit als Beruf bezeichnet) ist der der Schwester. In ihm sind den Tätigkeiten der Frau, entsprechend der ihr von Natur gegebenen Veranlagung, weite Grenzen gesetzt. Er ist der fraulichste aller Berufe. Alles, was man von einer Frau erwartet: Hilfsbereitschaft, Güte, Mütterlichkeit, wahres Frauentum sind die Wesenszüge einer echten Frau an sich. Und so gibt es für eine Frau keinen würdigeren Beruf neben dem der Mutter als den Schwesternberuf.“

Das ist kein Zitat aus dem 19. Jahrhundert, keines von Theodor Fliedner oder Amalie Sieveking. Es stammt aus der Wohlfahrtskorrespondenz vom 6. Januar 1938. Mitten im so genannten Dritten Reich, ein Jahr vor Kriegsbeginn, wurde eine staatlich geförderte Werbekampagne für den Schwesternberuf gestartet.1 Sie wurden gebraucht: die Frauen in Wohlfahrtsämtern, Krankenhäusern und an der Front, die die „Volksgesundheit“ im Blick hatten, die Familien betreuten, die Soldaten pflegten. Die „braune Schwesternschaft“ machte den christlichen Gemeinschaften, die im Verdacht standen, auch „unwertes Leben“ zu schützen, kräftig Konkurrenz. Tracht und Häubchen übernahm man gern – das schmückte. Und eben auch den Titel „Schwester“.

Viele atmeten auf, als Diakonie und Caritas nach dem Krieg wieder Raum gewannen in den Gemeinden. Bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts war die „Gemeindeschwester“ eine ganz selbstverständliche Figur und, ebenso wie die „Kindergartentante“, ein zentraler Knotenpunkt im Netzwerk der Ortsgemeinde. Sie kannte die Familien am Ort, half in Krankheit und Notlagen, lud zu Kindergottesdiensten und Nähstuben ins Gemeindehaus. Sie organisierte die Frauenhilfen und sorgte mit den Ehrenamtlichen gemeinsam für tragfähige Netzwerke in den Bezirken. Eine frühe Quartiersmanagerin.

Die Gemeindeschwester war Pflegekraft, Beraterin, Gemeindepädagogin und Seelsorgerin in einer Person und für viele das Gesicht der Kirche vor Ort. Immer ansprechbar, zugleich aber frei in der Ausübung ihres Dienstes. Für Diakonissen die schönste Arbeit, die sie sich vorstellen konnten – auch wenn sie kaum über privates Geld verfügten, genossen sie breite Anerkennung. Zu spüren ist das bis heute, abzulesen etwa an den Diakonissendenkmälern, die an vielen Orten aufgestellt wurden. Aber für die meisten Menschen ist das alles längst nicht mehr zeitgemäß – angefangen vom Leben in einer christlichen Gemeinschaft mit der unklaren Trennung zwischen Arbeit und Freizeit bis hin zu der Tatsache, dass die Diakonissen unter den Gemeindeschwestern für ihre Arbeit keinen entsprechenden Lohn, sondern nur ein Taschengeld bekamen. Seit Mitte der 1960er Jahre ging die Zahl der Diakonissen rapide zurück. Die Gemeindeschwestern wurden Teil der Teams von Sozial- und Diakoniestationen und konzentrierten sich fortan auf die professionelle Pflege. Refinanziert aus Kranken- und Pflegeversicherung, blieb wenig Zeit für Netzwerkarbeit. Und der „Gemeindediakonie“ fehlten die Impulsgeberinnen.

Den diakonischen Impulsgeberinnen von Amalie Sieveking bis Elfriede Averdick und Anna Maria von Delden ging es von Anfang an nicht nur um ein gutes Herz, sondern auch um berufliche Professionalität. Frauenorganisationen und Schwesterngemeinschaften trieben die Verberuflichung der Pflege voran – und gerieten dabei immer wieder in Konflikt mit paternalistischen Strukturen. Ob im Streit um die Länge der Ausbildungszeiten, um fachlich überzeugende Curricula oder um den 8-Stunden-Tag: Wenn es hart auf hart kam, wurde an das mütterliche Herz appelliert. Nein sagen gehörte nicht zur Tradition und Streiken schon gar nicht. „Schwesternschaften“ waren Lebens- und Arbeitsgemeinschaften, die traditionellen diakonischen Gemeinschaften „Ersatzfamilien“. Denn an der Wurzel der modernen Pflegegeschichte steht die Überzeugung, dass Frauen auf Beziehung angelegt und zur Nächstenliebe geboren sind – und die Pflegeberufe nur eine Fortsetzung der Arbeit von Ehefrauen und Müttern.

Schritt für Schritt, oft genug gegen die Kirche, musste die Unabhängigkeit erstritten werden: von der freien Berufsausübung über das Ende des „Frauenzölibats“, eigenen Verdienst und selbständiges Wohnen, eigene Ehe und Familie bis hin zum Pflegestudium. Nicht von ungefähr reicht das Entgelt in den klassischen „Frauenberufen“ bis heute kaum, um eine Familie zu ernähren. Dabei ist Pflege besonders stressbelastet und eine der Hochrisikogruppen für arbeitsbedingte Erkrankungen.2 Und noch immer gehört Nein sagen nicht zur Tradition: Nur zehn Prozent sind gewerkschaftlich organisiert. Die Folge: Pflegende wandern ab – im Schnitt nach 7,5 Jahren.

Die Geschichte der geistlichen Mütterlichkeit ist bis heute nicht überwunden. 70 Prozent der 1,5 Millionen, die ihre Angehörigen pflegen, sind Frauen. Wer sich um andere kümmert, hat weniger Zeit für Erwerbsarbeit, weniger Geld für Konsum und wahrscheinlich auch weniger in der Rente. Dabei leben wir in einer Erwerbsgesellschaft: Konsummöglichkeiten und soziale Sicherung hängen von der Erwerbstätigkeit ab. Wo Töchter und Schwiegertöchter zu weit weg wohnen oder Beruf und Familie nicht mehr vereinbaren können, springen andere Frauen ein:  Mehr als 300.000 Haushaltshilfen aus Osteuropa ermöglichen Pflegebedürftigen ein Leben im eigenen Zuhause. Auch bei den beruflich Pflegenden sind 85 Prozent Frauen. Wer sich in einer der Facebook-Gruppen zur Altenpflege umschaut, ahnt etwas vom Elend dauernder Verfügbarkeit, schlechter Bezahlung und mangelnder Wertschätzung in den TeilzeitSchichtdiensten. Heinz Bude3 spricht in diesem Zusammenhang von einem neuen „Dienstleistungsproletariat“. Daran hat auch der Corona-Bonus nichts geändert. Wenn sich etwas ändern soll, müssen wir begreifen, dass Care-Arbeit tatsächlich systemrelevant ist. Sie macht die produktive Arbeit überhaupt erst möglich. Wenn es nicht gelingt, beides – für Männer und Frauen – in ein neues Gleichgewicht zu bringen, droht das lange angekündigte Sorgedefizit. Die Zustände in den spanischen Pflegeeinrichtungen während der Corona-Krise lassen ahnen, was ich meine. Es geht um die Grundlagen unserer Arbeitsgesellschaft und unseres Miteinanders.

Die gesellschaftliche Herausforderung unserer Zeit ist Beziehungsnot. Der Pflegenotstand, die Situation in Tageseinrichtungen und Schulen, die Problematik der Armutsquartiere, die mangelnde Integration von „Parallelgesellschaften“ erinnern an manche Probleme zur Zeit der Industrialisierung, als die Schwesternschaften entstanden und die sozialen Berufe erfunden wurden. Das Versprechen, das damit verbunden war, war die Erfahrung von Gemeinschaft und Sinn. Wer anderen in ihrer Not begegnet, kann sich der eigenen Not in anderer Weise stellen. In der Begegnung kann Heilung geschehen. Wer heute pflegt, erlebt aber einen schmerzhaften Resonanzverlust – nur selten gelingt es noch, Menschen wirklich durch eine Krankheit zu begleiten, eine persönliche Entwicklung zu unterstützen.4 Inzwischen kann man im Internet T-Shirts bestellen, auf denen steht: „Ich bin kein Pflegeroboter“. Notgedrungen gleichen die Abläufe in manchen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen einer durchgeplanten Abfertigung. Manches kann dabei tatsächlich von Robotern übernommen werden. Aber was uns Menschen zu Menschen macht, die Begegnung, die den anderen oder die andere in seiner oder ihrer Würde spiegelt- das lässt sich nicht an Maschinen delegieren. Vielleicht sehnen sich eben darum viele nach den alten Gemeindeschwestern zurück? Es gibt ja inzwischen Gemeinden, die Modelle einer Gemeindeschwester neuer Form entwickelt haben, um die Netzwerk- und Quartiersarbeit zu stärken. Denn die Sorgeaufgaben können nur in einem guten Zusammenspiel von Familien, Arbeitgeber*innen, Kommunen und Dienstleister*innen geleistet werden. Das hat Corona wie im Brennglas deutlich gemacht.

Aber das andere auch: Nur auf dem Rücken der Frauen lässt sich das nicht länger organisieren. Es ist an der Zeit, dass Frauen und Männer für die Anerkennung der Care-Arbeit streiten. Und damit meine ich auch die finanzielle Anerkennung: damit es sich für Männer und Frauen lohnt, den Pflegeberuf zu ergreifen oder in bestimmten Lebensphasen beruflich kürzer zu treten, um Erziehung oder Pflege zu leisten.

Das alte Schwesternschaftsmotto hat betont, dass wir mehr vom Leben begreifen, wenn wir füreinander eintreten: „Gemeinschaft mit dem Nächsten, Gemeinschaft untereinander, Gemeinschaft mit Gott“. Aber da gibt es eine Lücke. Das Selbst fehlt, das im biblischen Dreieck von Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe seinen Platz hat. Denn ohne Selbstsorge kann Fürsorge nicht gelingen, ohne Selbstmitgefühl gibt es keine Empathie, kein Mitleid und keine Barmherzigkeit.

Wenn wir die Empathie in der diakonischen Arbeit erhalten wollen, braucht es Träger, die Mütterlichkeit und Schwesterlichkeit nicht mehr patriarchal ausnützen, sondern genossenschaftliche, gleichberechtigte und verantwortliche Arbeit fördern: durch eine Bezahlung, die es ermöglicht, auch eine Familie zu ernähren, und verlässliche Arbeitszeiten für die, die auch zu Hause pflegen oder Kinder erziehen. Es braucht Leitungskräfte, die nicht über die Bedürfnisse von Mitarbeitenden hinweggehen und ihre Gaben fordern und fördern. Der Anteil der „weiblichen“ Diakonie in Pflege und Erziehung ist nach wie vor groß – noch immer sind 77 Prozent der Beschäftigten Frauen. In Vorständen und Geschäftsführungen liegt der durchschnittliche Frauenanteil dagegen nur bei 31 Prozent. Und bei den Vorsitzenden beträgt er nur noch 25 Prozent. Tatsächlich werden leitende Frauen nach wie vor ganz besonders unter die Lupe genommen und mit impliziten Erwartungen an einen vermeintlich „weiblichen Führungsstil“ konfrontiert: Sie sollen besonders kommunikativ, empathisch und mütterlich sein. Auch auf der Leitungsebene ist die geistige Mütterlichkeit noch nicht überwunden.

„Mach Karriere als Mensch“ heißt das Motto für die jüngste Pflegekampagne des Ministeriums, mit der die integrative dreigliedrige Ausbildung beworben wird. Gut so, die Richtung stimmt! Denn eine diakonische Haltung steht Männern wie Frauen. Und Frauen wie Männer haben den Anspruch auf Anerkennung. Wer so denkt, kann sich auf Jesus von Nazareth berufen, der sich nicht zu schade war, Kranke zu berühren und Kinder zu herzen und küssen. Und der sich auch nicht schämte, seine Wunden und Schmerzen zu zeigen, ja zu schreien in seiner Gottverlassenheit – ein menschlicher Mann, der durch sein Leben deutlich machte, dass nicht nur Frauen zur Barmherzigkeit geboren sind. Rächäm, Barmherzigkeit, hat im Hebräischen mit der Gebärmutter zu tun – und zugleich spricht die Bibel von der väterlichen Barmherzigkeit Gottes. Ich denke dabei an die Väter, die mit ihren Kindern im Tragetuch reisen, und die jungen Erzieher und Pflegekräfte, die sich mit ihren Gaben einbringen in die alten „Frauenberufe“. Wir brauchen mehr davon.

Das wissen auch die diakonischen Gemeinschaften. Die meisten ehemaligen „Schwesternschaften“ nehmen inzwischen auch Brüder auf – so wie die ehemaligen Bruderschaften längst Diakoninnen einsegnen. Ob sie allerdings „Brüder“ heißen sollen, darüber gibt es hier und da noch Streit. Denn noch immer sind mit den Begriffen ganze Traditionsbestände verknüpft. Noch immer sind „Brüder“ eher mit Pfarrern, Diakonen oder Kirchenvorständen verbunden. Und „Schwestern“ sind eben Krankenschwestern.

Ich denke, es ist an der Zeit, zwischen Beruf und Haltung zu unterscheiden: Pflegekraft oder Sozialpädagogin zu sein, ist ein Beruf. Die geschwisterliche Verbundenheit miteinander, vor allem, wenn jemand leidet, ist eine Haltung. Diese Haltung zu pflegen, Menschen in der Diakonie spirituell zu begleiten und im Mentorat zu unterstützen, kann auch in Zukunft die Aufgabe diakonischer Gemeinschaften und Netzwerke sein. Frei gewählt, weil heute niemand mehr dazugehören muss, um diakonisch zu pflegen. Auf Solidarität aber sind alle angewiesen.
Anmerkungen
1) Lieselotte Katsche: Krankenpflege und Drittes Reich, Der Weg der Schwesternschaft des Evangelischen Diakonievereins 1933 – 1939, Stuttgart 1990
2)
Nach dem aktuellen BKK-Gesundheitsatlas liegt der Durchschnitt der Krankheitstage in der Krankenpflege bei 19,3 Tagen, in der Altenpflege sogar bei 24,1 Tagen – gegenüber 16,1 Tagen im Durchschnitt.
3) Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Berlin 2015
4) Vgl. Hartmut Rosas Arbeiten zur Beschleunigung
OKRin a.D. Cornelia Coenen-Marx ist Theologin und Germanistin. Sie hat uber viele Jahre in Kirche und Diakonie gearbeitet, zuletzt als Leiterin des Referats Sozial- und Gesellschaftspolitik im Kirchenamt der EKD. Heute bietet die Pastorin und Autorin mit ihrer Agentur „Seele und Sorge“ Workshops und Beratung an.
www.seele-und-sorge.de
OKRin a.D. Cornelia Coenen-Marx ist Theologin und Germanistin. Sie hat uber viele Jahre in Kirche und Diakonie gearbeitet, zuletzt als Leiterin des Referats Sozial- und Gesellschaftspolitik im Kirchenamt der EKD. Heute bietet die Pastorin und Autorin mit ihrer Agentur ÑSeele und Sorgeì Workshops und Beratung an. www.seele-und-sorge.de
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